Immer wieder samstags: Leseproben aus meinen Büchern

24.9.2024

Am 3.10.2024 erscheint mein neues Buch  

"Zurück ins Land der Duckmäuse? Lieber nicht! Miniaturen zu Politik und Gesellschaft heute"

Das Motto

Die Duckmaus ist nie kontrovers, sie kennt nur einen Vers.

Von mir aus, meinetwegen, ich habe nichts dagegen. (E.H.Bellermann)

Aus dem Vorwort

"Abtauchen oder Wegducken - ist keine individuelle oder gar gesellschaftliche Lösung. ... Denn: Wer schweigt, stimmt zu. ... Ich war fast vier Jahrzehnte Lehrerin für Politik und Wirtschaft. Der Staat, unser Dienstherr, hatte und beauftragt, junge Menschen zu mündigen Bürgern, nicht nur mit dem Ziel eigener Urteilskraft, sondern auch der Fähigkeit zum Widerspruch zu erziehen. ..."

Den Link zum BoD-Bookshop finden Sie in Kürze hier; das E-Book gibt es ab dem 3.10. bis zum 15.10. zum Aktionspreis von 4.99 Euro.

Aus dem Inhalt

 René Pfitzer[1], eher aus dem linken Spektrum und Alexander Wendt[2], eher aus dem rechten Spektrum haben jeder ein Buch über sie geschrieben: über die Woken, die Erwachten – oder gar die Erleuchteten?

Die Woken, die Wohlgesinnten, untersuchen Vergangenheit und Gegenwart, klopfen sie ab auf reale oder vermeintliche Unterdrückung und Benachteiligung von Gruppen.

Ihr Ziel: Zu canceln, auszulöschen oder zu verändern, was diese Benachteiligung gefördert hat, gefördert haben könnte oder noch fördert. Da entsteht natürlich kein Mangel an ständiger Veränderung.

Astrid Lindgrens Bücher müssen umgeschrieben werden, Jim Knopf betrifft es auch, im Außenministerium wird schon mal das Bismarck-Zimmer umbenannt.

 

George Orwell, der Analyst und Prophet des Autoritarismus und Totalitarismus, soll überprüft werden, ob man in irgendeinem verborgenen Winkel irgendetwas in Richtung Antisemitismus bei ihm finden könnte.

In „Sturm der Liebe“ wird in Dialogen dann und wann eifrig gegendert. Ob das realistisch ist?

Der Wokismus ist wohl überall angekommen, auch in der entlegenen Provinz …

 

Eine verschlafene kleine Stadt mit einer hübschen kleinen Kinderbühne. Oma, Mama und Enkelkinder freuen sich auf Rumpelstilzchen.

Die Theaterdirektorin begrüßt die Zuhörer.

„Heute seht ihr Humpelhilzchen.“

Zwei Kinder rufen sofort: „Nicht Humpelhilzchen, Rumpelstilzchen.“

Die Direktorin fährt ungerührt mit der biografischen Darstellung fort.

„Humpelhilzchen humpelt, deshalb wurde es in seiner Kindheit gemobbt und ging in den Wald.“

Häh?

Muss, wo Rumpelstilzchen draufsteht, nicht auch Rumpelstilzchen drin sein?

Die Kostüme sind traditionell, zur Freude der Kinder. Der Müller verdreht alle Worte, hat augenscheinlich einen Knoten im Knopf, die Aussprache des Königs ist für einen Schauspieler mindestens gewöhnungsbedürftig, das Humpelhilzchen, das sich selbst aber dann doch auch mal Rumpelstilzchen nennt und damit für weitere Verwirrung sorgt, kommt ansonsten mehr oder weniger erwartet daher. Dass es der Königin ihr neugeborenes Kind wegnehmen will, hat nun aber nachvollziehbare Gründe. Es ist eben so einsam und sucht einen Spielgefährten – kann man fast verstehen, oder?

Als die mittlerweile zur Königin aufgestiegene Müllerstochter im lauten Selbstgespräch Namen für das bisher im Erscheinungsbild männliche Wesen sucht, nennt sie vorwiegend Frauennamen. Der König verschenkt als neugeschaffener Philanthrop die Hälfte des gesponnenen Goldes, das Humpelhilzchen wird – Friede, Freude, Eierkuchen – Finanzminister. Alle haben sich lieb.

Ist die Welt so? Dient das Umschreiben traditioneller Vorbilder der Wahrheitsfindung, schafft man so bessere „Erziehung“ oder ist es Indoktrination im Namen des Guten, die bei nicht wenigen Reaktanz, Ablehnung hervorrufen wird?

 

Ob die kleine hübsche Bühne die Verwandlung ohne kräftige Subventionen und Gelder bis zur nächsten Saison überleben wird?



[1] Ebda.

[2] Alexander Wendt, Verachtung nach unten. Wie eine Moralelite die Bürgergesellschaft bedroht – und wie wir sie verteidigen können, Lau Verlag 2024

 

10.2.2024

"Ortsbegehung", aus: Erzähl Dir ZeitGeschichten, Twentysix 2019

„Guck mal, Kind“, sagte Papa, „jetzt stehe ich hier. Der kleine Schrank und der Zeitungsständer stehen links von mir. Der Tisch und die vier Stühle in der Mitte vom Wohnzimmer  sind rechts von mir.“ 

Er zeigte mit der linken und der rechten Hand auf die Gegenstände.

„Jetzt gehe ich auf die andere Seite vom Tisch. Und schwuppdiwupp, siehst du, ist der Tisch mit den Stühlen in der Mitte, der vorhin noch rechts von mir stand, links. Ob links oder rechts, Kind, das kommt auf den eigenen Standpunkt an."

 Papa stieg auf den Tisch. „Pass noch mal auf! Wenn ich zum Beispiel wie jetzt auf dem Tisch in der Mitte stehe und steige dann links davon hinunter“, Papa sprang auf den Boden, „dann rückt alles, was vorher in der Mitte stand, nach rechts für mich. Siehst du? Und je weiter du dich in eine Richtung entfernst, umso weiter entfernt sich die andere  Richtung von dir. Je nach eigenem Standpunkt nimmst du das jedenfalls so wahr.

Ist natürlich nicht wirklich so, der Tisch steht ja immer noch in der Mitte, sondern das ist einfach die Folge aus deinem eigenen Blickwinkel. Hast du das verstanden, Kind?“

Ich erinnere mich noch, wie ich Papa eifrig zugenickt habe.

 

24. November 2023

Mondia oder Die Verschwörung der Gleichen, Twentysix 2021

Freitag. Nora Fichtner. U-Bahn. Läuten. Fantasietanz. Die grauhaarige Hausherrin.

Mann, wie sieht die denn heute aus? Geschminkt, mit langem Rock, fließendem Pullover mit edler Strickjacke drüber und hochhackigen Stiefeletten. Kann sie sich noch leisten, Top-Figur für ihr Alter. Für mich hat sie das bestimmt nicht angezogen. Erwartet sie Besuch?

„Kommen Sie herein und mit nach draußen, Anne“, sagt sie und führt mich auf die Terrasse, ins äußerste Eck. Bei ihrem Anblick erinnere ich mich, was sie bezüglich adäquater Kleidung für unseren nächsten Termin gesagt hat. Ich habe nur einen Sommermantel an. Sie mustert mich, schüttelt ein wenig den Kopf, geht noch einmal ins Haus und kommt mit zwei Wintermänteln zurück. Einen überreicht sie mir.

„Den werden Sie vermutlich brauchen. Je nachdem, Anne.“

„Wir wollten reden, Frau Fichtner. Das haben Sie letzten Freitag bei unserem etwas merkwürdigen Termin angekündigt. Ich glaube, Sie müssten anfangen, oder?“

„Haben Sie etwas gehört, als Sie draußen gestanden haben. Bitte, sagen Sie die Wahrheit!“

Einen sehr langen Moment zögere ich mit der Antwort. Ihre Worte wirbeln mir wieder im Kopf herum. ‚Man kann sie nicht fassen. Und was man nicht fassen kann, ist auch nicht zu bekämpfen. Das ist unser Problem, die Anonymität der Macht. Sie verstecken sich hinter gutklingenden Phrasen, denen keiner widersprechen kann und in unheiligen Allianzen, die niemand durchschaut. Das ist ihre Stärke. Und so hat man uns alles genommen. Wir müssen kämpfen, wir werden sie besiegen, Freunde!‘

„Ich habe genug gehört, um zu begreifen, dass Sie irgendeinen Kampf führen. Und dass Sie Mitstreiter oder Komplizen dabei haben. Dass es gegen irgendwelche Mächtigen geht. Und dass Sie eine Verschwörung planen oder ein Komplott schmieden, das habe ich auch begriffen. Leider.“

„Leider?“ Nora lacht. „Die meisten Journalisten wären bei so einem Enthüllungsknaller vor Freude geplatzt. Sie scheinen also ein Gewissen zu haben, etwas Seltenes bei vielen jungen Leuten heutzutage. Ist ja auch besser fürs Durchkommen in diesem System.“

„Ich finde das gar nicht lustig, Frau Fichtner. Es bedeutet für mich, um mit den Worten meiner letzten Oma zu sprechen, ein Scheiß-Dilemma.“

Nora lacht wieder.

„Wundern Sie sich bitte nicht über mich“, sagt sie. „Mir ist eigentlich auch nicht zum Lachen zumute, aber in den letzten Jahrzehnten habe ich fürs Überleben gelernt, mit Entsetzen Scherz zu treiben.“

„Sie haben mich in eine verzwickte Lage gebracht. Kann ich meinem Arbeitgeber diese Informationen vorenthalten, das frage ich mich schon seit letztem Freitag.“

„Darum möchte ich Sie bitten, zumindest für einige Zeit, Anne. Über mich wissen Sie jetzt Bescheid, und mit Sicherheit ist diese Information genau das, was Schneider von Ihnen erhofft. Obwohl er nur bestätigt haben will, dass es immer noch so ist.“

„Wie kommen Sie darauf? Ich soll eine Artikelserie über eine berühmte Pianistin und Autorin schreiben, die etwas in Vergessenheit geraten ist und deshalb wieder mehr Publikumswirksamkeit durch diese Veröffentlichungen erhalten soll. Das ist die Aufgabe, die man mir gegeben hat, Frau Fichtner. Nichts sonst.“

Nora legt die Hand auf meine Schulter.

„Sie sind gutgläubig, Anne, im besten Sinne. Aber, was man Ihnen gesagt hat, ist vor den Kulissen. Dahinter tun sich andere Dinge. Gutgläubigkeit kann auch in gefährliche Naivität ausarten, deshalb muss man auch als Mensch, der bei anderen nur ehrenhafte Motive voraussetzt, vorsichtig sein. Nicht immer kann man von sich auf andere schließen.“

„Kennen Sie Schneider persönlich? Für mich hat das, was Sie sagen, irgendwie den Anschein.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Ich hatte den Verdacht anfänglich, weil Herr Schneider mehrfach von Ihnen als Nora gesprochen hat. Das fand ich ungewöhnlich vertraulich, von einer wildfremden Person eine Art Kosenamen zu verwenden. Was Sie jetzt gesagt haben, dass sich bei meinem Auftrag im Hintergrund ein ganz anderes Ziel verbirgt, diese Vermutung hatte ich auch schon. Sie haben das auf die Menschen, die hinter diesem Auftrag stehen, bezogen. Herr Schneider zieht die Fäden in dieser Sache, also, habe ich gefolgert, Sie könnten, Sie müssten ihn kennen.“

„Sie haben Recht, Anne, wir kennen uns. Edwin Schneider ist mein Mann, aber wir leben seit fast drei Jahrzehnten getrennt. Und wir hatten ein Kind zusammen. Clara. Mein Mann hatte bei unserer Eheschließung meinen Namen angenommen und seinen zweiten Namen als Rufnamen festgelegt. Alexander Fichtner. Es schien ihm damals in seiner Verlagstätigkeit von Nutzen, der Mann einer berühmten Autorin und Pianistin zu sein. Als man mich dann fallen ließ, hat er die Seiten gewechselt und seinen ursprünglichen Namen angenommen. Mit seinem ersten Vornamen als Rufnamen. Edwin Schneider. Wir waren mal ein gutes Team. Er hat Sie auf mich angesetzt, um herauszubekommen, ob ich im Untergrund immer noch aktiv bin. Und er näht immer doppelt, das heißt, auf Sie selbst hat er mit Sicherheit auch jemanden angesetzt. Einen Informanten auf den Informanten, so nennen sie dieses Doppelprinzip. Seien Sie vorsichtig!“

„Wenn ich jetzt nicht wieder gehe, Frau Fichtner, dann weiß ich zu viel. Ich traue mir zu, eine einzige Information zu verschweigen. Konspirative Treffen, möglicherweise konkrete Anschlagspläne zu kennen und für mich zu behalten, das schaffe ich nicht. Man würde mir das Lügen an der Nasenspitze ansehen.“

„Was Sie heute bei Ihrem Termin erfahren würden, geht nicht über den Informationsgehalt vom vorigen Freitag hinaus, Anne. Dass ich – aus gutem Grund natürlich – einen Erdkeller gebaut habe, das wissen Sie schon. Dass ich weiter im Untergrund tätig bin, auch. Heute würden Sie nur bei Kerzenschein vier meiner Mitstreiter kennenlernen. Sie würden Ihre Gesichter kaum sehen können, so dunkel ist es im Hügel drin nämlich. Und Namen erfahren Sie nicht. Aber wir haben ein Problem. Wir sind alle alt und deshalb brauchen wir die Jugend, damit mit unserem Verschwinden nicht auch unsere Ideen in Vergessenheit geraten. Und das ist der Grund, warum ich Sie bitten möchte, zu bleiben. Wenn wir Sie überzeugen, könnten Sie unserer Sache vielleicht dienlich sein.“

Mittlerweile hat es angefangen zu regnen. Das erleichtert meine Entscheidung. Wir gehen gemeinsam zum Hügel.

14. September 2023

Wat dat Volkherr jesacht hätt aus Erzähl Dir ZeitGeschichten, Twentysix 2019, S. 345f.

J

etzt sind de Narren wieder unterwegs. Et iss  de komische Zeit. Da will ich et doch nit versäumen, Ihnen mal en lustig Jeschicht zu verzählen.

 Neulich saßen mir alle beim Doris im Lokal, dachten an nix, als dat Volkherr zur Tür rein kam. Mann, isch sach eusch, mir ham uns fast nass jelacht. Dat Volkherr kam in `ne kurz Hos zur Tür erin. Un draußen, da war et vier Grad unter Null. Dat Volkherr bibberte und schlotterte auch janz erbärmlisch.

„Nu setz disch erstmal hin“, ham mir dann all jesacht. Und dat Volkherr hat sich hin jehockt.

Der war aber jar nit ze bremse. Der hat auf die Mutti jeschimpft, dat hättste escht nit jedacht. Dat Volkherr hat nämlisch früher dat Mutti imma nur jelobt, wat fürn tolle Mutti dat wär. Aber jetzt:

Sie hätt ihn zur kurz Hos jezwunge, obwohl dat jar net jut für ihn wär. Aber dat Mutti wollt imma allet besser wissen, und allet bestimmen. Er, dat Volkherr, er tät doch auch wat wissen, wat jut un wat böse wär. Un auch, wat für ihn rischtisch un wat für ihn falsch wär, dat wüsst er auch jenau, sagte dat Volkherr.

„Un wat willste jetzt machen?“, ham mir dann all jefracht.

Er hätt‘s ja schon über de Papa versucht. De Papa, der hätt dat Mutti jesacht, dass sie dem Volkherr mehr zutrauen sollte. Dat Volkherr wär doch schon groß un sie hätt ihn doch so lang jut erzogen, der wüsst schon jenau, wat er wollen täte un wat er macht. Aber se würd sich ja sojar bei de Nachbarn einmischen. Die hätten ihr aber schwer Bescheid jestoßen. Se soll erstmal in ihrem Laden allet richtig machen. Se sollt sich an de eijene Nase packen, dat ham die jesacht. Dat Mutti, dat würd aber auf keinen hören, nit auf de Papa, nit auf de Nachbarn.  Sie würd eben auf jar keinen hören und einfach imma so weiter machen.

„Ja, da musste dann aber mal selber wat sajen un machen“, ham mir dat Volkherr jesacht. Aber da fing dat Volkherr wieder so an zu schlottern und zu bibbern. Obwohl’s bei de Doris imma escht warm iss.

Als dat Volkherr draußen war, hab isch jesacht.

„ Eijentlich iss et ja noch imma jut jejange.“

Dies Mal wär‘s aber janz anders, hat de Axel da jemeint. Ich glaub‘, dat iss e ´ne Schwarzseher, oder?

Mal hörn, wenn dat Volkherr nächste Mal wieder zu de Doris ins Lokal kommt.

 

7.September 2023

Das Motto aus Mondia oder Die Verschwörung der Gleichen, Twentysix 2021, ein Zitat von Hannah Arendt

„Die Trennungslinie zwischen denen, die denken wollen und deshalb für sich selbst urteilen müssen, und denen, die sich kein Urteil bilden, verläuft quer zu allen sozialen Unterschieden, quer zu allen Unterschieden in Kultur und Bildung. Verlässlicher werden die Zweifler und Skeptiker sein, nicht etwa, weil Skeptizismus gut und Zweifel heilsam ist, sondern weil diese Menschen es gewohnt sind, Dinge zu überprüfen und sich ihre eigene Meinung zu bilden.“

 

12. Juli 2023

Benjamin beim Peuschel, Erzähl Dir ZeitGeschichten, Twentysix 2019, S. 303ff.

T

oll war es wohl nicht gelaufen, gestand sich Benjamin Granbusch ein. Warum sonst hatte ihn der alte Zausel  zu sich bestellt?

Um 9.45 Uhr war Dino – Karlheinz Peuschel – unangemeldet in der Unterrichtsstunde erschienen. Jetzt saß er in seinem dicken Schuldirektorsessel und Benjamin stand davor.

„Was ist denn nun bei Ihrer Stunde herausgekommen?“, fragte Peuschel.

Obwohl ein Besucherstuhl vorhanden war, bot er Benjamin keine Sitzgelegenheit an. Ließ ihn wie einen dummen Jungen vor seinem Schreibtisch Achtung annehmen. So ein machtgieriges militaristisches Arschloch.

„Also, wie lange brauchen Sie denn, um mir, kurz und knapp bitte, zu antworten? Was haben die Schüler in dieser Stunde gelernt, was sie nun getrost nachhause tragen können?“

Benjamin, der von allen ‚Ben‘ genannt wurde, war – das wusste jeder und er selbst vor allem – ein schneller Denker. Also, Opa, zuerst einmal haben die Schüler gelernt, dass ich cool bin. Ein junger cooler Lehrer. Und dass der Coole auch noch gut aussieht, das haben vor allem die Mädchen gelernt. Und der Unterschied, mein lieber Dino, zwischen dir und mir, der hat bei der Erkenntnis nicht unwesentlich geholfen. Das waren Benjamins erste Gedanken, aber er war kein Kamikazeflieger, er sagte das natürlich nicht.

„Das Oberziel, Herr Peuschel, war ein affektives, gleichzeitig methodisches. Deshalb haben die Schüler ja Gruppenarbeit gemacht.“

„Affektiert waren Sie, Herr Granbusch, das Ziel haben Sie erreicht. Haben sich inszeniert statt eine Sache oder die Kinder in den Mittelpunkt zu stellen. Und ich habe Sie übrigens auch nicht gefragt, wie die Schüler gearbeitet haben und welche Gefühle Sie Ihnen damit vermitteln wollten, sondern was bei den fünfundvierzig Minuten, die Sie bezahlten Unterricht gemacht haben, außer Gefühlen hinten raus gekommen ist!“

Benjamin fing ein bisschen an zu schwitzen. Wenn ihm jetzt nichts Gutes einfiele, würde der Alte eine negative Bemerkung in die Personalakte aufnehmen. Das kam bei Bewerbungen gar nicht gut.

„Ich habe die Schüler entsprechend der Analyse nach Klafki dort abgeholt, wo sie sind“, fiel ihm ein wissenschaftlich und belesen klingender Gedanke, den er im Seminar gehört hatte, ein.

„Ist ja alles gut und schön, aber in Ihrer Stunde sind die Schüler genau da sitzen geblieben, wo Sie sie nach Klafki abgeholt haben. Nicht einen Zentimeter haben sie sich weiter bewegt. Und Sie, lieber Granbusch, Sie auch nicht.“

„Es fiel vielleicht nicht so ins Auge, aber die Schüler haben sich ja auch in der Verwendung neuer Medien geschult. Zum Beispiel die Benutzung der Schulcomputer, die ich dezentral in den Unterrichtsverlauf mit eingebaut hatte“, versuchte Benjamin eine erneute Verteidigung.

„Das ist mir alles andere als entgangen, junger Mann. Wie die Hälfte Ihrer Schüler unter Getöse und Geschrei Ihren Unterricht verlassen hat. Herr Schnaubl ist vorhin bei mir gewesen und hat sich beklagt, dass Ihre Schüler in seinen Informatik-Unterricht eingedrungen sind. Und nach dem Browserverlauf, den Herr Schnaubl an den benutzten Computern nachvollzogen hat, waren die Themen alles andere als dem von Ihnen beabsichtigten Stoff entnommen. Der Kollege wurde selbst bei seinem Bericht noch rot.“

Er musste Peuschel mit den neuen Didaktik-Ansätzen beschämen, entschied Benjamin. Der alte Sack hatte davon doch sowieso keine Ahnung. Und wenn er ein paar Begriffe fallen ließe, dann würde der Dino schon merken, dass er ein ausgestorbenes Fossil mit völlig überholten Ansichten war. Und er selbst würde triumphieren und nicht mehr wie ein Schulkind vor diesem Urzeitvieh zittern.

„Es hat sich in der Pädagogik der letzten Jahre, eher des letzten Jahrzehnts, auch etwas getan. Und an diese neuen Ansätze halte ich mich in meinem Unterricht natürlich. Ich fungiere weniger als Vermittler des Wissens als vielmehr als Moderator, der den Jugendlichen die Chance auf selbständiges Lernen eröffnet.“

Ben war sehr erstaunt, dass Peuschel schallend lachte. Er hatte seinen eigenen Kurzvortrag für äußerst schlau und eloquent gehalten.

„Wissen Sie, was Sie sind, Herr Granbusch?“, fragte Peuschel.

Wartete Dino auf eine Antwort? Was sollte er  antworten? Benjamin schwieg.

„Na prima“, sagte Peuschel, „endlich hat’s Ihnen mal die Sprache verschlagen. Da gibt’s ja eine Chance zum Nachdenken, nicht wahr? Dann nehmen Sie mal Platz!“

Er zeigte auf den Besucherstuhl. Benjamin setzte sich.    Der Alte wollte sich doch nur spreizen, selber reden, sein Erklärungsmonopol vor ihm ausbreiten. Das war’s.

„Sie sind ein Traumtänzer, Herr Granbusch, befinden sich dabei allerdings in mannigfaltiger Gesellschaft. Glauben Sie denn wirklich, dass Schüler lernen wollen? Das ist doch die absolute Ausnahme. Zum Guten musste man früher wie heute gezwungen werden. Sie hatten sich doch auch nicht anständig auf Ihren Unterricht  vorbereitet, sonst wäre er bestimmt nicht so in die Hose gegangen, oder? Ja, und ein Kompetenzsimulant, Verehrtester, das sind Sie auch. Und wenn Sie das und Ihre Faulheit nicht ablegen, dann wird’s schwer für Sie. Kinder sind nämlich auf Dauer  unsere strengsten Kritiker. Und wenn sich der Unterricht nicht lohnt – und das heißt, dass die Kinder in Ihren Stunden weiter kommen, einen Zugewinn an Wissen erlangen – dann werden Sie Ihnen das ein Leben  lang zeigen, darauf können Sie sich verlassen. Das allerdings“, fügte er als unmissverständliche Warnung hinzu, „würde ich zu verhindern wissen, glauben Sie mir!“

Benjamin hatte in dem mehrminütigen Gespräch – acht Minuten mochten es jetzt wohl sein – bereits einiges gelernt. Dass man, wenn man schwieg oder einem die Worte fehlten, einen Sitzplatz bekam. Das war angenehm. Eine positive Sanktionierung sozusagen.

Benjamin blieb also weiter still, obwohl er dem Peuschel gerne erzählt hätte, dass er jeden Nachmittag von seinen Schülern unzählige Likes auf seiner Website bekam – aber von solchen Sachen wollte der Dino sowieso nichts hören.

„Mit Ihrem ganzen neumodischen Kram, lieber Granbusch, da werden Sie auf Dauer nicht weiter kommen. Fangen wir einmal mit dem pädagogischen Grundwortschatz an. Welches Tätigkeitswort steckt denn nach Ihrer präprofessionellen Meinung in ‚Erziehung‘?“

Jetzt sollte er wohl nicht schweigen, dachte Benjamin. Eine solch einfache Frage bedurfte einer knappen und eindeutigen Antwort: Fragen-entwickelnder Unterricht eben.

„Ziehen, Herr Peuschel“, antwortete er.

„Richtig“, lobte der.

„Und da Sie nun mal Physiker sind: Wenn zwei Kräfte vorhanden sind und die sind gleich stark, kommt es dann zum Ziehen?“

„Nein, Herr Peuschel“, erwiderte Benjamin.

„Wiederum richtig. Was schließen Sie daraus?“

„Dass nur dann ein Ziehen möglich ist, wenn eine der Kräfte stärker ist. Bei Kraftgleichheit käme es zum Stillstand, es würde sich nichts von der Stelle bewegen.“

„Man kann Ihnen also für die Zukunft nur erheblich mehr Kraft wünschen, nicht wahr? Gehen Sie jetzt zurück ins Lehrerzimmer und denken Sie an alles, wenn ich zum nächsten Mal komme. Das wird innerhalb der nächsten Tage, Wochen oder Monate sein.

 

„Sind Sie zufrieden, Granbusch –

Und sind wir uns einig?“

„Jawohl, Herr Peuschel“,

rief Benjamin schleunig.

„Na dann.

Guten Tag.“

Eins musste man dem Dino lassen. Kraft entfalten, das konnte er.

 

20.Mai 2023

In Utopisch. Ideen und ihre Geschichten führt die Erzählung Stell dir vor in den Ersten Weltkrieg. Agathe, die Hundertjährige, die beide Kriege erlebt hat, erzählt die Geschichte ihrer Eltern Elisabeth und Karl Montiegel, dem Vater, den sie nie gesehen hat, weil er von der Front nicht zurückgekommen ist. 

Stell dir vor

„Dass Menschen so verblendet sein können!“, sagt Agathe.

Sie sitzt adrett gekleidet auf ihrem jahrzehntealten,  aber immer noch ansehnlichen Sofa, dass sie durch eine hässliche Decke schützt, wenn sie niemanden erwartet. Einmal habe ich sie besucht, weil ich in der Gegend war. Ohne Anmeldung. Und da bedeckte ein scheußlich buntes, gemustertes Etwas aus der Nierentisch-Ära die Chaiselongue. Agathe sieht für ihr Alter durchaus passabel aus, denn vorletztes Jahr ist sie hundert geworden.

Ob sie diese engen vier Wände hasst, in denen sie schon so übermäßig lange wohnen muss? Als sie sich vor zwanzig Jahren mit über achtzig entschlossen hat, ins Altersheim zu ziehen, hat sie bestenfalls mit einigen weiteren Lebensjahren gerechnet.

„Weißt du was, ich bin einfach nicht totzukriegen. Und das, wo man in unserer Familie eigentlich traditionsgemäß früh stirbt. Mich wird man wohl erschießen müssen, was meinst du?“

Das sagt sie bei jedem Besuch und lacht dabei ihr leises trockenes Lachen, was so gar nicht fröhlich klingt. Ich habe mir abgewöhnt, etwas Ablehnendes zu entgegnen. Ich glaube, sie erwartet das auch nicht.

Agathe ist meine Tante, die Schwester von Friedrich Montiegel, meinem verstorbenen Vater.

„Ich möchte bei meinem Vornamen genannt werden. Nicht Tante, da fühlt man sich auf Verwandtschaft reduziert“, hat sie gefordert.

Sie war nie verheiratet, sie hat keine Kinder, alle Freunde und Freundinnen sind längst tot. Ich bin ihr einziger Kontakt zur Außenwelt. Aber ich besuche Agathe nicht nur aus Pflichtbewusstsein oder Mitleid.

Ihre Gedanken und ihre Erinnerungen sind es, die mich regelmäßig zu ihr führen. Ihr wacher Geist verfügt über fast hundert Jahre Erfahrung und erlebte Geschichte.

Agathes Zimmer ist vollgestopft mit Büchern und alten Dokumenten. So bewahrte man früher das Wissen der Welt. Zu ihrem Neunzigsten hatte ich ihr einen Computer schenken wollen. Sie hatte ihn entsetzt zurückgewiesen.

„Ich will mich in meinem Alter nicht mehr mit solch neumodischem Kram belasten. Die Gegenwart und die Zukunft, die finden für mich nicht mehr statt. Die Vergangenheit, in ihr lebe ich und die habe ich hier bei mir“, hatte sie gesagt und auf die vielen Reihen Bücher in den Regalen längs der Wände gedeutet.

Sie hat einige Papiere und ein aufgeschlagenes Buch  auf dem Tisch liegen.

„Schau mal in die Gesichter hier! Wie fröhlich und unbeschwert sie schauen. Als ob sie zu einem Ausflug ins Grüne aufbrechen. Oder zu einem Wettkampf, bei dem sie siegreich bleiben werden. Die erhobenen Fäuste, sieh mal! Wie gutgläubig sie waren und wie schrecklich dumm.“

12. Mai 2023

In der Erzählung Das verlorene Leben oder Kennen Sie Robert Blum in Utopisch. Ideen und ihre Geschichten, Twentysix 2020 werfe ich einen Blick auf den Pauslkirchen-Revolutionär Robert Blum, der kritisierte, aufstand, für die Freiheit kämpfte und dafür sein Leben ließ. In einem Brief an seine Schwester äußert er sich zur Pflicht und Notwendigkeit zur Zivilcourage.

1844

Brief[1] an die Schwester Margarete Selbach

vom 23. November[2]

Ich hätte von Dir am wenigsten die spießbürgerlich elende Weisheit erwartet: ‚Lass es sein, du änderst doch nichts!‘

Pfui, schäme Dich derselben. Es hätte nie ein Christentum und eine Reformation und keine Staatsrevolution und überhaupt nichts Großes und Gutes gegeben, wenn jeder stets gedacht hätte:

‚Du änderst doch nichts!‘



[1] Die folgenden Briefausschnitte finden sich in Schmidt, S., (Hrsg.), a.a.O.; Layout- und Orthographieveränderungen vom Verfasser.

[2] Blum sitzt seit September 1844 wegen Verunglimpfung der königlich-sächsischen Justizbehörden eine zweimonatige Haftstrafe ab.

 

10. Mai 2023

Eine Menge Promis und Politiker wurden in der jüngsten Vergangenheit erwischt: Sie hatten fremdes geistiges Eigentum als ihr eigenes verkauft. Doktortitel futsch! Ob's zu mühevoll war, die Erkenntnisse selbst zu gewinnen?

Lest mal nach in meinem satirischen Ratgeber "Werden Sie wichtig!, Twentysix 2019, S.89ff.  

Frederic von Anhalt hat es vorgemacht. Von eher bescheidenem Herkommen, hat er sich vor Jahrzehnten in ein altehrwürdiges deutsches Adelsgeschlecht eingekauft. Wenn man seinem Titelhändler, dem schönen Konsul Weyer, Glauben schenken darf, hat er am Ende sogar das Bezahlen vergessen. In Amerika dann der Aufstieg in höchste Kreise und die Heirat mit einer ehemals wunderschönen, sinnvollerweise reichen und vor allem erheblich älteren Frau. In vielen Adelsgeschlechtern gibt es Verarmte, die kein Problem damit haben, gegen Geld eine krummbucklige Verwandtschaft zu ertragen.

Aufsteigen und die Ich-Marke befördern kann man auch mit einem akademischen Titel.

Es soll Möglichkeiten geben, Doktorarbeiten und Habilitationsschriften zu kaufen. Das ist aber illegal und wird strafrechtlich verfolgt, wenn man erwischt wird.   

Eine Reihe Leute sind in den letzten Jahren mit abgeschriebenen Doktorarbeiten oder Habilitationsschriften aufgeflogen. In Ihrer Schrift würde ein spezielles Suchprogramm sehr bald die Stellen finden, wo Sie abgeguckt und abgekupfert haben. Ein zurückgegebener Titel ist für die Ich-Marke eher schädlich, dazu sollten Sie es nicht kommen lassen. Denken Sie an den gutaussehenden Freiherrn!

Wenn Sie einige Spezis haben, die Ihnen zu einer Ehrendoktorwürde verhelfen könnten – vielleicht sind Sie und die so schlau, es zu bewerkstelligen. Dass hinter Ihrem Titel noch ein h.c. – honoris causa, um der Ehre willen – vermerkt ist, wird kaum jemand wahrnehmen.

Was nicht ganz so viele Schwierigkeiten macht, ist die Ernennung zum Botschafter irgendeines Landes, ganz weit weg von uns. Da wird man als Exzellenz angesprochen, das kommt gut.

In einigen Unternehmen kann man relativ problemlos manager oder president oder vice president werden, auch wenn man nur einen einzigen Praktikanten und zwei studentische Aushilfskräfte  als Untergebene hat und zum Beispiel Kartoffel- oder Fleischprodukte verkauft. Das sieht nach außen toll aus, nur Insider schauen hinter die Kulissen und wissen, dass Sie für die Titelverleihung auf tausend pro Monat verzichtet haben. Wenn Ihnen sonst nichts einfällt, könnten Sie nach einer solchen Position Ausschau halten und dann sehr bald wieder kündigen. Dann setzen Sie former vor den Titel auf Ihrer Visitenkarte.

So genau guckt heute keiner mehr.

5. Mai 2023

Ein Ehepaar ist spurlos verschwunden. Die drei Kinder sind in großer Sorge. Irene, die Tochter, bittet einen Journalisten, sich auf die Suche zu machen, weil die Polizei untätig bleibt. "Die Stufen der Wahrheit" in "Erzähl Dir ZeitGeschichten" Twentysix 2019, S. 9ff.

Dr. Brauer

Manes Sekretärin hatte mir Brauers Adresse und Telefonnummer gegeben.

„Sie müssen mir aber versprechen, dass Sie nicht sagen, von wem Sie die Adresse haben. Mane wird mich sofort hinauswerfen. Ich kann mich doch auf Sie verlassen?“

„Sichere Quellen sind immer sicher“, hatte ich sie beruhigt.

Jetzt stand ich vor Brauers Wohnung. Für einen Doktor der Astrophysik eine bemerkenswerte Gegend und ein bemerkenswerter Wohnblock. Beides total heruntergekommen. Das Treppenhaus roch muffig und fischig. Warum musste ein derart bekannter Mann hier wohnen? Nach dem zweiten Läuten wurde die Tür geöffnet. Ich nannte meinen Namen, der Doktor bat mich  hinein. Im kleinen dunklen Wohnzimmer nahmen wir Platz.

„Herr Doktor Brauer, Sie wissen ja in groben Zügen, um was es geht. Vor acht Monaten ist der bekannte Rechtsanwalt Richard Hynes spurlos verschwunden. Die Familie hat eine Vermisstenmeldung aufgegeben. Ob die Polizei in der Sache sehr aktiv gewesen ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Sechs Monate später verschwindet seine Frau, Clara Hynes. Ebenso spurlos und unauffindbar wie ihr Mann. Die drei Kinder sind natürlich in großer Sorge, vor allem, weil sie der Polizei Untätigkeit unterstellen. Sie haben sich an die Zeitungen gewandt und das hat eine Lawine ausgelöst. Die Gerüchte überschlagen sich. Außerirdische hätten die beiden entführt, mutmaßen die Leute. So ein Verschwinden macht in dieser ländlichen Gegend viel Aufruhr und Angst. Der Chronicle hat mich als freien Journalisten mit der Recherche beauftragt. Es soll Licht in das Dunkel gebracht werden.“

„Eher Dunkel in das Licht“, lachte Brauer.

„Darf ich fragen, was Sie damit meinen?“

„Sollte es sich tatsächlich um eine solche Sache handeln, wird der Chronicle alles tun, um den Sachverhalt zu verschleiern. Ihnen, junger Freund, kann ich nur raten, sehr vorsichtig mit Ihren Aussagen zu sein, weil Sie sonst lebenslang in einer Gegend und einer Wohnung wie dieser Ihr Dasein fristen werden. Ich dachte auch einmal, man müsste immer und überall die Wahrheit sagen. Das ist mir, wie Sie unschwer erkennen können, schlecht bekommen. Erst habe ich meinen Job verloren, wurde verleumdet, diffamiert, für verrückt erklärt. Dann kam die  gesellschaftliche Ächtung, meine Frau hat’s nicht ausgehalten und meine Kinder wollten keinen Irren zum Vater. Ging alles aber trotzdem nicht anders. Ich bin nun mal so wie ich bin.“

„Glauben Sie, dass die beiden von Aliens entführt wurden?“

Brauer lachte wieder.

„Wissen Sie, mit dem Glauben hab ich’s nicht so. Ich hab ja damals nicht geglaubt, dass ich ein UFO gesehen habe, sondern etwa fünfhundert andere Leute neben mir sahen es auch. Und dort, wo es dann gelandet ist, hat es Spuren hinterlassen. Die gesamte Vegetation war verbrannt – oder verdorrt, das konnte man nicht so genau unterscheiden. Und deutliche Spuren im Erdboden, die waren ebenso auszumachen. In meiner Naivität habe ich zunächst meiner vorgesetzten Behörde alles berichtet, man erlegte mir Schweigen auf. Nach ein paar Jahren brach ich das Schweigegelübde, weil ich es nicht mehr vor mir verantworten konnte. Mit dem Ergebnis hier.“

„Können Sie mir einen Hinweis in der Sache geben?“

„Ich werde Ihnen einige Adressen von Institutionen und Leuten geben. Die Sache mit den UFOs und den Aliens, da gibt es ja schon Forschung, Beobachtungen und einiges mehr. Aber Sie hören nichts, zumindest nicht viel davon. Wenn hier Aliens gewesen sind, dann haben auch andere Leute die beobachtet. Dann müsste etwas bekannt sein.“

Er ging in einen anderen Raum und kam mit einem Papier zurück.

„Hier ist die Liste. Telefonieren Sie sich erst einmal durch, vielleicht werden Sie fündig.“

...

 

30. April 2023

Ob Kommunismus oder Sozialismus das Heil bringen können - den real existierenden Sozialismus, der sich in der Praxis beweisen musste und bewiesen hat, den gab es ja schon. In der Erzählung Wiedergänger in "Utopisch, Ideen und ihre Geschichten", Twentysix 2020, S. 195ff. erinnert einiges an die DDR ...

Wiedergänger

„Schätzchen.“

Ganz allein stand dieses Wort seit zwei, drei Minuten im Raum. Es sollte Bedeutung entfalten, sich einprägen, demütigen, vor der Zukunft warnen. Was Schneider aussagen, nicht nur andeuten, sondern ein für alle Mal festhalten wollte.

Er saß mir gegenüber in seinem dunkelbraunen aufwendig gepolsterten Bürodrehstuhl. Er wippte, stieß sich sachte mit den Füßen ab, so dass er sich ein wenig bewegte; hin- und her, nach rechts, nach links, nach hinten und nach vorne.

Warum musste ich immer und überall in Bildern, in Metaphern denken? Ich war nicht aufgerufen, demnächst ein Buch über Schneider zu schreiben, ich war zum Rapport hierher zitiert worden. Vermutlich, dass man mir den Kopf zurechtsetzen oder mich hinauswerfen konnte.

„Ihnen sagt also Ihre Aufgabe nicht mehr zu. Soll ich Ihr Schreiben so verstehen?“

„Ja, und deshalb möchte ich Veränderungsvorschläge machen.“

Schneider lachte, meckerte wie ein Ziegenbock, laut und lange. Und wie vorhin bei dem Wort ließ er sein Lachen eine Zeitlang wirken.

„Dann lassen Sie doch mal hören, nicht wahr?“

Er lehnte sich zurück, nahm sich einen Keks aus der auf dem Schreibtisch stehenden Gebäckschale und begann genussvoll zu essen.

„Die ursprüngliche Vereinbarung zwischen dem Verlag und mir war, dass ich Eleonore Fichtner eine Zeitlang begleiten sollte, um eine Artikelserie über sie schreiben zu können. Ich habe dafür genug Informationen gesammelt. Als ich mich mit dem entsprechenden Schreiben an Ihr Büro gewandt habe, hat man mir lediglich geantwortet, ich solle weiter dranbleiben. Das aber kann ich nicht tun. Bei allem Weiteren würde ich sonst in Gefahr geraten, Frau Fichtners Intimsphäre zu verletzen.“

„Ach“, sagte Schneider und lachte wieder. „Die Intimsphäre von Nora, von Frau Fichtner, zu verletzen, das genau, Liebchen, ist Ihre Aufgabe. Kapiert?“

„Nein, das werde ich unter keinen Umständen tun. Frau Fichtner ist mir in den wenigen Tagen so etwas wie eine mütterliche Freundin geworden, deren Vertrauen ich auf keinen Fall missbrauchen werde. Das könnte ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.“

„Schön, dass Sie sich in der glücklichen Lage wähnen, sich ein Gewissen leisten zu können.“

„Wenn Sie sich außerstande sehen, auf meinen Vorschlag einzugehen, Herr Schneider, werde ich gezwungen sein zu kündigen.“

„Tatsächlich, Kindchen? Was Sie für Perspektiven einnehmen! Sie will einer Freundin nicht zu nahe treten, weil sich das nicht schickt. Mein Gott, hier stehen ganz andere Dinge auf dem Spiel. Da spielen Ihre kleinen Befindlichkeiten nicht die geringste Rolle.“

„Herr Schneider, ich habe mich bei Ihnen um einen Job beworben. Die Aufgabe, die ich zu erfüllen hatte, wurde mir im Bewerbungsgespräch erläutert und klar umrissen. Ich habe sie übernommen und sie ist jetzt beendet. Was hat das mit meinen Perspektiven und Befindlichkeiten zu tun?“

„Sie haben bei einem ganz besonderen Arbeitgeber angeheuert. Ich habe Sie angeworben. Ganz oben. Was man dort tut, hat Bedeutung. Für alle, für den Staat, für die Sicherheit. Und diesen Arbeitgeber, den vertrete ich. Deshalb sage ich Ihnen, Sie werden Ihre Aufgabe so lange fortsetzen, bis ich zufrieden bin. Und glauben Sie ja nicht, Frau Fichtner sei völlig ahnungslos und wüsste nicht, um was es geht. Sie passt auf, lässt nur heraus, was sie will.“

„Wie bereits gesagt, dann muss ich meinen Job leider aufgeben.“

Schneider grinste.

„Bei diesem Arbeitgeber kündigt man nicht, Schätzchen. Es sei denn, mit den Füßen voraus, nicht wahr?“


Auf dem Flur noch war Schneiders abgehacktes Lachen zu hören. Für Vorsicht war es wohl längst zu spät.[2] [3]



[1] Zitiert nach Spiegel 44/1995, S. 152, aufgenommen in Wikiquote. 5.01.2020; 18.32 Uhr.

[2] Bespitzelung der eigenen Bevölkerung ist ein Merkmal diktatorischer Systeme. Von der DDR ist bekannt, dass sich das Ministerium für Staatssicherheit gegen Ende auf 189000 Inoffizielle Mitarbeiter (jeweils 1 IM auf 89 Bürger) sowie eine ungleich größere Anzahl von AKPs (Auskunftspersonen) stützen konnte, um unliebsame Meinungen und Aktionen auszuhorchen. AKPs war meistens gar nicht bewusst, dass sie der Staatssicherheit heikle Informationen übermittelten. (wikipedia, Inoffizieller Mitarbeiter; 04.04.2020; 19.51 Uhr.)

[3] Vorabdruck aus Luise Link, Der Komplex; erscheint 2021.


21. April 2023

Mit der Gefahr von Atombombenexplosionen waren die Menschen in den 60er Jahren  des vorigen Jahrhunderts während des Kalten Krieges beschäftigt. In "Utopisch. Ideen und ihre Geschichten, Twentysix 2020, S. 200, zitiere ich in dem Kapitel "Die Zauberlehrlinge" den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Wenn seine Äußerungen doch endlich eine Warnung wären ...

Stimmen

 „Heute muss jeder Bewohner dieses Planeten auf den Tag gefasst sein, da der Planet nicht mehr bewohnbar ist. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind lebt unter einem nuklearen Damoklesschwert. Es hängt am dünnsten aller Fäden, der jeden Augenblick durch einen Zufall, eine Fehlkalkulation oder durch Wahnsinn durchgeschnitten werden kann.“

John F. Kennedy 1961 vor den Vereinten Nationen


Bild von Doris Bauer in Utopisch. Ideen und ihre Geschichten (Screenshot)
Herr, die Not ist groß
Die ich rief, die Geister
Werd ich nun nicht los.
Johann Wolfgang von Goethe, Der Zauberlehrling



24. März 2023

Viel wird diskutiert über die Alten, die die Wohnungen in den Städten für die Jungen blockieren, die viel zu große Häuser auf dem Lande haben; es wird ihnen doch recht geschehen, wenn sie diese Häuser räumen müssen, weil sie die Sanierungskosten und die Wärmepunmpe nicht bezahlen können und keine Kredite mehr aufnehmen können ...

Aus: Luise Link, Erzähl Dir ZeitGeschichten, Bände 1 bis 3, überarbeitet und ergänzt, Twentysix 2019, S. 287ff.

Im Wohnraum an den Wänden links und rechts der Tür gibt es deckenhohe Fenster. Die schweren dunklen Vorhänge dort sind zugezogen. Das Licht ist gedämpft. Im Raum ist es trotz des spätsommerlichen Wetters draußen angenehm kühl. Am großen Fenster an der Stirnseite des Raumes sind die Vorhänge zurückgezogen. Eine tiefstehende Abendsonne erhellt den Raum hier etwas mehr.
Im Fensterrahmen zeichnet sich ein Körper ab. Man sieht eine Person in einem Schaukelstuhl sitzen und nach draußen schauen.
Im Garten vor dem Haus ist es still. Kein Vogelgezwitscher, kein Blätterrauschen. Ebenso still ist der Raum.
Die Tür öffnet sich.
Ein Mann tritt ein, geht zur Person im Schaukelstuhl und tritt hinter sie. Er wartet eine Weile, schweigt. Dann beginnt er zu sprechen.
„Sie haben sich geweigert.“
 
Der Mann dreht den Stuhl herum, so dass die Person ihm ins Gesicht blicken muss.
„ Sie sind uns bekannt. Frau K. Mein Ausweis, ich zeige Ihnen meinen Ausweis. Ich bin also der Beamte B. Ich habe Ihre Akte bekommen, ich bin jetzt in der Behörde für Sie verantwortlich. Da Sie keine Stimme haben, heben Sie die Hand, wenn Sie widersprechen wollen.“
 
Er greift nach dem Arm der Frau, hebt ihn an der Hand hoch, lässt den Arm einen Moment auf seinem höchsten Punkt ruhen.
„So also.“
 
Er lässt den Arm los, der Arm fällt herunter, bleibt auf der Lehne des Schaukelstuhls liegen. Der Beamte entnimmt seiner Aktentasche einen Ordner. Er holt einen Hocker herbei, nimmt Platz. Er beginnt aus dem Ordner vorzulesen.
„Zu Ihrer Person.
Weiblich, geboren 1980. Hier in diesem Haus, Eigentum Ihres Vaters. In den beiden letzten Kriegen nicht zerstört. Seit 1980 haben Sie hier gewohnt. An Ihrem fünfundsechzigsten Geburtstag vor vier Wochen hat Ihnen die Behörde eine Nachricht zukommen lassen. Die den viel zu üppigen Wohnraum zum Gegenstand der Belehrung hatte. Fünf Quadratmeter maximal bei Erreichen der Altersgrenze. Die Behörde hat Sie erinnert, an unser aller Fundamente: Altersgerechtigkeit, Brüderlichkeit, und Freiheit, durch Befreiung von unnützem Eigentum also. Sie – jedoch - haben sich trotz schriftlicher Belehrung nicht mit der Zustimmung an uns gewandt, so dass ich Sie jetzt in Ihrem Heim besuchen musste.“
 
Er legt eine Pause ein. Die Frau bewegt ihren Zeigefinger.
Der Beamte fährt, als sich nichts weiter bewegt, fort.
„Ressourcen. Mein Heimbesuch bindet Ressourcen. Man hätte sie anderweitig einsetzen können. Die Behörde war nicht erfreut. Dass Sie sich nun also geweigert hatten. Man macht sich deshalb die Mühe, Sie heute persönlich aufzuklären und Ihnen die Unberechtigung Ihrer Position deutlich zu machen. Wenn Sie nun nicht widersprechen – ein anderes Heim für Sie zu suchen.“
 
Der Beamte legt eine Pause ein. Der Zeigefinger der Frau bewegt sich. Der Beamte fährt, als sich nichts weiter bewegt, fort.
„Ich freue mich, dass die Aufklärung nicht zum Widerspruch geführt hat. So sucht man Ihnen jetzt ein Heim, ein adäquates, ein gerechtes. Man schließt nun Ihre Akte mit Ihrer Zustimmung, sehen Sie.“
 
Er schließt ihre Akte.
„Die Behörde wird erfreut sein.“
 
Der Mann dreht die Frau wieder zum Fenster. Er schließt die Vorhänge. Im Raum wird es stockdunkel. Er hebt sie aus dem Schaukelstuhl.

„ Man  braucht sie nicht mehr. Schaukelstühle, Unnützes. In Ihrem neuen Heim.“

 Der Beamte verlässt mit seinem Bündel den Raum. Er tritt mit dem Fuß gegen die Tür, sie fällt ins Schloss. Der Schaukelstuhl steht leer und verwaist. Man hat Platz gemacht.

 

17. März 2023

Ich gebe euch heute einen kurzen Einblick in meinen neuen, in Kürze erscheinende Zukunftsroman  "Im Land der braven ...."(Den ganzen Titel verrate ich noch nicht!). Er passt zum Thema des heutigen Posts.

„Richard hat Ideen von menschlicher Züchtung schon einmal verfolgt, zusammen mit einer Wissenschaftlerin aus der Provinz Norwegen. Sie haben Frauenleichen gekühlt und versucht, deren Gebärmutter für künstlich befruchtete Eizellen funktionsfähig zu erhalten. Das war vor sechs Jahren. Als sich ein Misserfolg abzeichnete, ist er entlassen worden. Die an sich alles andere als zimperlichen Autoritäten starteten eine Kampagne gegen ihn, stellten ihn als Sündenbock öffentlich an den Pranger und wiesen ihn für ein Jahr in die Psychiatrie ein. Er sieht seine Chance gekommen, sich mit diesem Projekt zu rehabilitieren, die Diagnose aus seiner Identitätskarte löschen lassen zu können und stattdessen groß herauszukommen. Er meint es ernst, davon bin ich überzeugt.“

 

11. März 2023

Am 8. März war Weltfrauentag. Die Unterdrückung der Frauen ist alt. So war sie in der athenischen Demokratie fester Bestandteil. Und selbst die Revolutionäre der Französischen Revolution waren strikt gegen die Gleichberechtigung der Frauen und von ihrem rechtmäßigen Platz am Herd des Hauses überzeugt. In "Utopisch. Ideen und ihre Geschichten, Twentysix 2020" werfe ich einen Blick auf das Leben der jungen Hagne. Sie lebt in Athen, im Jahr des Perikles und hat ihrem Gatten ein Mädchen geboren. 

Hagne

...     

Athen

Zwanzigster Hekatombaion im Jahr des Perikles

Hippolytos liest die gerade eingetroffene Nachricht seines Vaters.

 „Mein Sohn Hippolytos!

Ich werde Poseidon und Aiolos opfern, damit meine Nachricht dich schnell erreichen möge! 

Hagne hat uns alle schwer enttäuscht! Ich hatte einen Sohn erwartet, vor allem, weil dein Gesundheitszustand weiterhin, wie Hagne mitgeteilt hat, schlecht ist. Wer soll meinen Platz einnehmen, unserem Haus, dem Gesinde und den Sklaven vorstehen, falls du stirbst? Das Kind, das Mädchen, wird nur Kosten verursachen und schon in wenigen Jahren muss ich ihrem Bräutigam eine Mitgift zahlen. Ich habe deshalb entschieden, dass das Kind auszusetzen ist. Sollte Hagne nicht umgehend meinem Befehl gehorchen, dir irgendwelche Schwierigkeiten machen, weinen, sich an das Kind klammern oder dich irgendwie durch weibisches Verhalten unter Druck setzen, gib mir Nachricht. Ich werde sie dann umgehend des Hauses verweisen, damit ich von ihr geschieden bin. Mache ihr klar, dass ihre Mitgift nur sehr gering war und ihr Vater sie wohl nicht gern oder gar nicht zurücknehmen wird. Er war in den Brautverhandlungen sehr hartleibig und schien mir auch nur über sehr geringe Mittel zu verfügen. Sehr erfreut war ich über die Mitteilung, dass du Hagne in allen Belangen des Hausstandes mit Rat zur Seite stehst. Bleibe weiterhin ein guter Sachwalter meiner Interessen! Ich werde, wenn es der Gang der Geschäfte erlaubt, nachhause zurückkehren. Vielleicht sind die Götter dir gnädig und machen dich wieder stark und gesund. Bete zu ihnen!

Dein Vater Timaios“

...

Ob Hagne einen Ausweg für sich und ihr Kind gefunden hat? Oder hat sie Eudokia  auf dem öffentlichen Dunghaufen Athens ausgesetzt und dem Untergang preisgegeben?Ging sie vielleicht gemeinsam mit ihr in den Tod? 

 

2. März 2023

Spaltungsstrategie, Herrschaft, die Mächtigen, herrschende Eliten - viele wundern sich, dass diese Begriffe in einer Demokratie überhaupt eine Rolle spielen. Ist nicht das Volk der Souverän? In "Utopisch. Ideen und ihre Geschichten, Twentysix 2020" findet sich das folgende Zitat von Joschka Fischer ...

Ob die Grünen das noch kennen?

"Man kann nicht so lange wählen lassen, bis einem das Ergebnis passt."

 17. Februar 2023

Mondia oder Die Verschwörung der Gleichen beginnt mit einem Zitat von Hannah Arendt als Motto.

„Die Trennungslinie zwischen denen, die denken wollen und deshalb für sich selbst urteilen müssen, und denen, die sich kein Urteil bilden, verläuft quer zu allen sozialen Unterschieden, quer zu allen Unterschieden in Kultur und Bildung. Verlässlicher werden die Zweifler und Skeptiker sein, nicht etwa, weil Skeptizismus gut und Zweifel heilsam ist, sondern weil diese Menschen es gewohnt sind, Dinge zu überprüfen und sich ihre eigene Meinung zu bilden.“

9. Februar 2023

Eine alte Frau, die lange im Ausland gelebt hat, begibt sich trotz vieler Warnungen noch einmal in ihre Heimat. Sie findet das Land völlig verändert vor. In einem Supermarkt, in dem sie sich nach der Reise mit dem Flugzeug für die nächsten Tage versorgen möchte, erlebt sie einen Alptraum.

Von den Riesen und von den Zwergen, aus: Utopisch. Ideen und ihre Geschichten, Twentysix 2020, S. 42 ff.

Sie befand sich im innersten Teil des Marktes. Wo war sie gestrandet? Warum hatte sie sich als alter Mensch in ein Land begeben, in dem die Alten nicht geachtet, sondern geächtet wurden? 

     Vor der Sichtschutzwand standen zwei Frauen, die vom rechten Eingang, die aus der Schlange und ein Mann, der Magere von vorhin. Sie trugen jetzt auf dem Kopf Kappen mit mehreren Schellen und weiße Kittel, Alte stand vorn auf der Brust. Die Mutter mit ihren beiden Sprösslingen ging zu ihnen. Die zwei Frauen knieten sich sofort nieder, neigten die Köpfe, blickten zu Boden. Die Kinder wurden auf den Rücken gesetzt.

      Was war das für ein Schauspiel?

     „Hüh, hott!“, rief die Mutter und gab den beiden Menschenpferden einen Klaps auf den Rücken. Die zwei Kleinen brüllten jetzt nicht mehr. Sie lachten.

     „Hüh, hott“, kreischten sie und gaben ihrem beweglichen Untersatz die Sporen. Los ging der fröhliche Ritt, begleitet von leisem Schellengeläut und aufbrandendem Beifall der Erwachsenen.

      Da waren sie, die Zwerge! Drückten die Alten, die Riesen zu Boden, warfen sie in den Staub, anstatt auf ihren Schultern zu stehen und damit weiter sehen zu können als diese selbst.  

      Die Mutter verschwand im Einkaufsmarkt. Der Magere stand nun allein vor der Wand, schaute unter sich, wartete wohl auf den nächsten Reiter.

      Während die Zuschauer weiter nickten und in die Kameras lächelten, erbrach sie auf den Boden. Der Laserstrahl blieb bei ihr hängen und eine junge Angestellte führte sie hinter die Wand.

Am Tower oben rotierte das elektronische Spruchband:[1] 

Die Jugend ist unsere Zukunft!



[1] Öffentliche Demütigung als Mittel von Ausgrenzung findet sich, sowohl in der neueren wie neuesten Geschichte, häufig. Erst 1806 wurde in Preußen der Spießrutenlauf abgeschafft. Der Delinquent musste durch die Gasse laufen und bekam von jedem Teilnehmenden einen Streich mit einer Rute. Sechsmaliges Spießrutenlaufen kam der Todesstrafe gleich; meist endete sie für den Delinquenten auch entsprechend. Im Dritten Reich zwang man jüdische Mitbürger zum Tragen des Davidssterns. Von der Kulturrevolution in China (1966-1976), die maßgeblich von jugendlichen Rotgardisten getragen wurde und sich gegen revisionistische Autoritäten wandte, weiß man, dass in Ungnade gefallene Parteigenossen durch die Städte getrieben, mit Fußtritten traktiert und bespuckt wurden. Man hängte ihnen Plakate um, auf denen ihre Verfehlungen benannt waren. Viele wurden ermordet. Insgesamt forderte die Kulturrevolution 1,5 bis 1,8 Millionen Todesopfer. 

(deutschlandfunk.de/staatlich-verordnete-anarchie-vor-50-jahren-begann-die.724.de.html?dram:article_id=353310; 04.04.20110.43 Uhr) 

4. Febraur 2023

In Mondia, einem globalen Überwachungsstaat der Zukunft, hat die Protagonistin Nora für die Erhaltung der Freiheit gekämpft.

Aus Mondia oder Die Verschwörung der Gleichen, Twentysix 2021, S. 240 

Über die Umstände von Noras Tod hatte nichts bekannt werden sollen, die Nachrichten waren trotzdem nach außen gedrungen. Man verdächtigte die Wärter, verhörte und folterte sie, konnte die undichte Stelle aber letztlich nicht dingfest machen.

Noras Tod und die Schauprozesse wirkten in den nächsten Jahren wie eine Lunte, die an die Grundfesten des Systems gelegt worden war. Überall gab es Heftpflaster-Demonstrationen und -Schweigemärsche. Sie wurden bekannt, obwohl offiziell nicht darüber berichtet werden durfte. Gegen die aufflammenden Widerstände ging man mit aller Härte vor, dennoch gelang die Kontrolle des Schwelbrands, der das System zu zerstören drohte, nicht. 

...

28. Janaur 2023

Charlotte, die Schwester von Maximilien Robespierre denkt am Morgen der Hinrichtung des Königs  auch über eine kleine, aber für viele Menschen dennoch bedeutende, Veränderung nach, die die Revolutionäre herbeigeführt haben.

Aus Utopisch. Ideen und ihre Geschichten, Twentysix 2020, S. 102.

Rue Saint Honoré 366,

2. Pluviôse im Jahr I der Republik

21. Januar 1793

      Charlotte war heute Morgen nicht aufgestanden. An diesem außergewöhnlichen Tag mit den Brüdern in aller Ruhe das Frühstück einzunehmen, das hatte sie sich einfach nicht vorstellen können. 
      Sie war sicher, dass das Ganze nicht recht war. Das nicht, und das mit der Kirche auch nicht. Und schön konnte man es auch nicht finden. Nur alle zehn Tage so etwas wie Sonntag. Sogar den Namen dafür wollten sie abschaffen. Wenn sie auf dem Markt einkaufte, hatte sie schon öfter Leute darüber murren hören. Gerade für die einfachen Leute dort waren die Sonntage immer etwas Besonderes gewesen ... 
 

19. Januar 2023

Die Protagonistin Anne nimmt den Fußweg durch die Stadt, um zum Haus von Nora zu gelangen. Sie lässt die Gegend auf sich wirken. Ihre Gedanken schweifen zurück zu ihrer Pflege-Großmutter Omimi und deren Gedanken über das System, in dem Anne aufgewachsen ist und lebt.

Aus Mondia oder Die Verschwörung der Gleichen, Twentysix 2021, S. 107ff.

Eigentlich müsste ich ins Büro gehen, ich könnte ja noch mehrere Stunden arbeiten. Schneider hat mir allerdings bisher nicht den Eindruck vermittelt, dass er von mir Fleiß, Pünktlichkeit, Präsenz, das ganze Set von den ehemaligen Arbeitstugenden, von denen sie uns an der Allgemein-Akademie berichtet haben, erwartet. Das Ziel, das Schneider vor mir verborgen hält, und dessen Erreichung ist das, was Schneider interessiert. Wie ich an die Informationen, die er haben will, herankomme, ist ihm völlig egal. Und wie intensiv ich dafür arbeite oder nicht, auch. Das Ergebnis muss stimmen. Jede Schweinerei, jeder Vertrauensbruch ist gerechtfertigt, für das große, das unbekannte Ziel, an dessen Formulierung ich keinen Anteil hatte. Aber Nora scheint auch wirklich gefährlich zu sein. Eine Verräterin, eine Verschwörerin. Dass die sich dann wehren, ist verständlich. Wer lässt sich von subversiven Elementen die Macht wegnehmen? Ich werde den Fußweg durch die Stadt nachhause nehmen. Da kann ich meine Gedanken ordnen und Zeit kostet es auch. Bei meinem dürftigen Bericht am Montag kann ich dann ein bisschen tricksen. Irgendetwas wird mir schon einfallen.

Omimi sagte immer, wenn du den gleichen Weg in der anderen Richtung zurückgehst, kommt er dir ganz neu vor. Als man gegen Ende des Mittelalters die Schriften der Antike entdeckt hat, ging es den Leuten so. Die Gedanken waren so modern, dass viele erst auf dem Scheiterhaufen sterben mussten, bevor den alten neuen Gedanken eine Wiedergeburt beschieden war.

Völlig neu wirkt die Stadt in umgekehrter Richtung auf mich jetzt allerdings nicht. Kaum Verkehr, am Anfang meines Weges liegen die großen Einfamilienhäuser, die man früher Villen nannte, dann die kilometerlangen Reihen der endlosen Wohnblocks und jetzt das Zentrum der Stadt. Immer noch wenig Verkehr. Obwohl es heller Tag ist, sind die Hochhausschluchten wieder dunkel. Aber die vielen neuen Banner an den Fronten, die nimmt man schon wahr. Wollen sie einen anderen PRIMEQUI einsetzen? Davon habe ich mal wieder nichts mitgekriegt. Ich interessiere mich eben nicht für Politik. Man kann sowieso nichts machen und hat keinen Einfluss. Solange Wohnung, Essen und ein paar Vergnügungen stimmen, muss man zufrieden sein. Omimi war da allerdings anderer Ansicht. Sie hat immer so lose Reden geführt, jedermann erzählt, was sie von der Regierung hält. Und wenn wir über Gleichheit und Gerechtigkeit gesprochen haben, hat sie immer „Da fehlt aber noch was. Brot und Spiele sind nicht genug“, gesagt. Ob sie irgendjemand bei denen oben verraten hat? Ob sie sie abgeholt und irgendwohin umgesiedelt haben? Ich habe nie mehr etwas von ihr gehört. Aber so soll es ja auch sein. Wenn man umgesiedelt wird, lässt man seine Vergangenheit hinter sich und bricht zu Neuem auf. So sagen sie es jedenfalls.

Der Mann auf den Bannern sieht aus wie eine Mischung aus allen Gegenden, die jetzt vereinigt sind. Ein bisschen was aus jeder Himmelsrichtung und von jedem Bundesstaat. Den würde ich gern mal auf einer Kundgebung sehen, so von Angesicht zu Angesicht, aber das ist ja nicht mehr üblich. Läuft alles virtuell. Ist moderner, stimmt schon. Aber irgendwie ist es schade. Virtueller Sex ist wirklichem Sex auch unterlegen, jedenfalls nach meiner Erfahrung. Als ich im Jugendcamp war, hat mir Frederic, meine erste Affäre, erzählt, dass das Motto der Gleichheitsbewegung früher anders gewesen ist, bevor der PRIMEQUI von damals das Ende der Revolution verkündet hat. Da hieß das Motto nämlich V: GG. Das V stand für Veränderung. Ist aber logisch, dass, wenn die Revolution beendet ist, es keine Veränderung mehr geben kann oder soll. Dann ist das Ziel erreicht und alle sind zufrieden, denkt man jedenfalls.

Alkims Wohnung ist zu nah am Komplex, es wäre mir peinlich, wenn mich irgendjemand so früh am Tage sieht und ich nicht zur Arbeit gehe. Der Hoxxi von der Allgemein-Akademie hat immer was von Arbeitsethos gefaselt und wir haben alle immer ein bisschen darüber gelacht, wenn er uns nicht hören konnte. Aber irgendwie hat sein Gerede davon Spuren bei mir hinterlassen. Ich schäme mich, obwohl mich keiner erwischen wird. Omimi hat eine solche unsichtbare Gehirnsteuerung Gewissen genannt. ‚Ein gutes Gewissen ist ein gutes Ruhekissen‘, hat sie mir eingeimpft.

Da werde ich wohl heute bei mir zuhause schlaflos bleiben.

13. Januar 2023

Im Riesenstaat der Zukunft sind Erdteile und Nationen, Regionen und Religionen, Milliarden von Menschen vereint. Dort lebt Anne. Sie lernt Nora, eine ehemalige Pianistin und Autorin, kennen. Annes Aufgabe ist, über sie eine Artikelserie zu verfassen. Ist die ältere Frau eine Verschwörerin gegen das System?

Aus Mondia oder Die Verschwörung der Gleichen, Twentysix 2021, S. 119ff.

Die Tür des Erdkellers ist offen. Sonst würden die Leute, die sich da drinnen bei Kerzenschein aufhalten, wohl auch schnell ersticken. Die Kerzen fressen den Sauerstoff, vielleicht gibt es noch ein Belüftungsrohr nach oben, und die Tür. Wenn es heißer Sommer wäre, würde man die Kühle hier drinnen wohl als angenehm empfinden. Aber bei dem Regen und Wind draußen ist es ungemütlich. Ohne Wintermantel wär’s nicht auszuhalten. Manchmal flackern die Kerzen, wenn ein Windstoß hereinfährt.

Die Leute, die hier versammelt sind, müssten eigentlich hinter dem warmen Ofen sitzen, so alt scheinen sie mir zu sein, und dabei mogelt der Kerzenschein bei jedem sicher gute zehn Jahre weg. Zusammen bringen die fünf Versammelten schätzungsweise dreihundert bis dreihundertfünfzig Jahre auf die Waage. Eine ganze Menge, wenn man bedenkt, dass ich unter dreißig bin. Interessante Typen sind es allesamt. Zwei Männer, drei Frauen. Ein Chinese oder Mongole, ein Langhaariger mit kleinglasiger Eulenbrille, eine mollige Dame mit halblanger Dauerwelle, eine überschlanke Dame mit Ballerina-Frisur und die elegante Nora.

„Setzen Sie sich, A. Hier neben mir“, sagt Nora.
Wir nehmen Platz. Die Herren und die Damen lächeln, Nora stellt ein Glas mit Rotwein vor mich hin.
„Sie trinken doch Alkohol, oder?“, fragt sie.
Ich nicke.
„Ich habe Ihnen ja schon erklärt, dass wir uns heute ohne Namen begegnen wollen. Der Einfachheit halber nennen Sie die Anwesenden einfach bei einem Buchstaben. B, C, D, E, zeigt sie rundum auf die Sitzenden. Nora für mich, das ist ok.“
Der Chinese ergreift das Wort.
„Nora hat uns erzählt, dass Sie eine Spionin von Schneider sind. Stimmt das?“
Alle lachen. Ich nicht – und ich weiß auch nichts darauf zu erwidern.
„Sie müssen B verzeihen. Er ist ein richtiger Feuerkopf, liebt es zu provozieren, aber nur um der guten Sache willen“, meint C, wuschelt in B’s Haaren und drückt danach ihre eigene Welle in Form.
Nora gebietet durch Klopfen an das Rotweinglas Ruhe.
„Liebe Freunde, ich freue mich, dass ihr diese, heute zu Ende gehende   Woche für unseren jährlichen Kongress genutzt habt. Heute schließen wir unsere Beratungen ab. Ein besonderes Ereignis! Hoffentlich können alle hier und heute Versammelten auch im nächsten Jahr noch in diesem – oder vielleicht in einem weit größeren ­– Kreise beieinander sein.“
Unter Kongress stelle ich mir eigentlich mehr Leute als fünf vor. Fünfhundert mindestens oder fünftausend. Die fünf hier erscheinen mir eher wie ein letztes versprengtes Häuflein von traurigen Gerechten.
E erhebt sich.
„Fasst euch an den Händen, wir singen unser Lied.“
Nora nimmt meine Hand.
„E war früher eine berühmte Opernsängerin“, flüstert sie. „Freuen Sie sich auf die Darbietung, und wenn Sie das Lied noch kennen, singen Sie doch mit!“
 
„Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten?
Sie fliegen vorbei
Wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
Kein Jäger erschießen.
Es bleibet dabei,
Die Gedanken sind frei.“
 
Mir ist dieses rückwärtsgewandte Pathos unangenehm. Auch dass Nora meine Hand weiter festhält, behagt mir nicht. Endlich lösen sich aller Hände wieder.
D ergreift das Wort.
„Nora hat uns den Auftrag gegeben, Ihnen etwas von unseren Ideen zu erzählen. Anscheinend hat sie einen Narren an Ihnen gefressen. Aber bei Noras Schicksal ist uns allen das mehr als verständlich. Wenn man sie beide so nebeneinandersitzen sieht, könnte man meinen, Sie sind.“
D unterbricht sich, als C die Hand auf seine legt. Nora wirkt etwas verstört, streckt sich, stützt ihren Kopf einen Moment auf ihre gefalteten Hände –dann scheint sie wie immer. Beherrscht, diszipliniert und gelassen.
„Sie sind jung, A. Viele Ereignisse und Veränderungen haben vor Ihrer Zeit stattgefunden“, fährt D fort. „Die Vergangenheit mit ihren Ideen liegt mehr und mehr im Dunkel, denn der Zugang ist durch die Löschung ihrer Zeugnisse außerordentlich erschwert, fast nicht mehr möglich. Und da die lebenden Zeugen, wie sie beispielsweise heute hier vor Ihren Augen versammelt sind, kraft Alters vor dem Aussterben stehen, möchten wir diese wunderbaren Ideen vor dem Verschwinden bewahren. Wir brauchen die Jugend, die die Ideen wiederbelebt, weiterträgt und vor dem Vergehen bewahrt. Sonst dauert es am Ende wieder zweitausend Jahre bis zur Wiedergeburt – wie bei der Renaissance.“
Bei dieser traurigen Aussicht lachen einige, obwohl es eigentlich nichts zu lachen gibt. Nora nickt.
C ist an der Reihe. Altmodisch, wie sie alle hier sind, erhebt auch sie sich für ihren Vortrag.
„Damit Sie einen Eindruck bekommen, wie die Löschung der Ideen funktioniert hat, will ich Ihnen etwas über mein Leben berichten. Ich war Kinderbuchautorin und habe in meinen Büchern unsere Kultur mit ihren wunderbaren Errungenschaften vorgestellt und für die Jüngeren lebendig gehalten – bis man bei der ersten Bücherverbrennung vor zwanzig Jahren – die noch unzählige weitere Autoren mit ähnlichen Aussagen betroffen hat – den Versuch gemacht hat, diese Ideen ein für alle Mal für Kinder auszuradieren. Wissen Sie, damals wurden noch vorwiegend Printbücher gelesen. Meine elektronischen Werke wurden gelöscht, ich war tot, totgeschwiegen. Und das ist bis heute so geblieben. Nora ist es nicht besser ergangen. Auch ihre Bücher kamen damals bei der ersten öffentlichen Bücherverbrennung auf den Scheiterhaufen, die elektronischen Ausgaben wurden gelöscht, Nora selbst wurde geächtet. Und dass das jetzt rückgängig gemacht werden soll, daran können wir alle nicht so recht glauben.“
Einen Moment bleibt es still, bis Nora das Glas erhebt.
„Auf die Freiheit!“, sagt sie. Alle erheben das Glas und wiederholen
„Auf die Freiheit!“
Ich falle in den Chor nicht ein. Erstens hasse ich dieses bedeutsame Getue und zweitens weiß ich nicht, was genau sie unter Freiheit verstehen. Ich wusste es schon damals bei Omimi nicht, wenn sie davon gesprochen hat.
Als hätte sie meine Gedanken erraten, erhebt sich E und beginnt von der Freiheit zu sprechen.
„Was Freiheit ist, besser, was sie einst war, vermissen wir, die wir sie gekannt haben, schmerzlich, unendlich schmerzlich. Dass man mit anderen Menschen frei kommunizieren konnte, ohne abgehört, beobachtet zu werden. Dass man Rechte hatte, die einklagbar waren. Versammlungsfreiheit, dass man seine Wohnung suchen konnte, wo man wollte, dass der Staat dich nicht enteignen, aus der Wohnung oder deinem Haus holen und woanders hin umsiedeln konnte, dass man nicht einfach seinen Beruf verlieren konnte, dass du deine Meinung frei äußern durftest, ohne dafür bestraft zu werden, auch wenn sie der Regierungsmeinung widersprach. Und das Volk in einem Staat hat gewählt und seine Regierenden bestimmt, immer nur für eine Periode, dann mussten sich die Regierenden und die Parteien wieder dem eigenen Volk stellen und konnten abgewählt werden.“
„Der PRIMEQUI konnte gewählt werden, von uns allen, von den Gleichen?“, unterbreche ich E.
Leises Gelächter ist zu hören, alle scheinen sich über mich und meine Frage lustig zu machen.
„Unter den Gleichen, A, sind wohl heute die mehr Gleichen und die weniger Gleichen zu verstehen. Die sich besser, wissender dünkten als die Masse, hat es wohl zu allen Zeiten gegeben. Aber früher hatten sie nicht mehr Macht als die sogenannte Masse. Und diese Gleichheit, vor dem Gesetz, den Rechten, bei Wahlen – das alles und noch viel mehr haben wir verloren. Und all dies muss die Jugend wiedergewinnen. Ohne Kampf wird das nicht gelingen.“
E nimmt Platz, nippt an ihrem Weinglas. Alle schweigen.
Erwarten die Versammelten, dass ich etwas sagen soll? Dass ich eine Meinung dazu habe? Dass ich mich in ihre Kampfreihen einordnen werde?
Ich bin ratlos und bleibe ebenfalls stumm. 
 
 

7.Januar 2023

Als ich in 2020 meine Erzählung "Stell dir vor" über die Schrecken des ersten Weltkriegs in meinem Buch Utopisch. Ideen und ihre Geschichten veröffentlichte, schien Krieg, zumindest in Deutschland, eher eine Erscheinung der Vergangenheit zu sein. Leider war das eine Fehleinschätzung, die Frage von Krieg und Frieden, die Einstellungen zum Krieg als einem Mittel der Politik sind in Bewegung. 

Aus den Erinnerungen des deutschen Kronprinzen, des Oberbefehlshabers der deutschen 5. Armee vor Verdun, in Utopisch. Ideen und ihre Geschichten, Twentysix 2020, S. 220f.

„Ich hatte das Glück, diesen Angriff aus nächster Nähe vom Gefechtsstande des Generalkommandos aus im Walde von Forges zu beobachten. Das auf dem ganzen Höhengelände liegende Trommelfeuer unserer Artillerie bot einen schaurigschönen Anblick dar; der Tote Mann[1] sah wie ein großer Vulkan aus, Luft und Erde erzitterten unter Tausenden von Geschosseinschlägen. Die Minute des festgesetzten Sturmes der Infanterie war erreicht. Pünktlich verlegten unsere Batterien ihr Feuer nach vorwärts, und mit dem Scherenfernrohr verfolgte ich deutlich unsere Schützen, wie sie ihre Gräben verließen, nach vorwärts stürzten und wie hier und da über ihnen die kleinen Wölkchen detonierender Handgranaten sichtbar wurden. […]Die so lange gehegte Sehnsucht, mit meinen prachtvollen Truppen endlich wieder in Bewegung zu kommen, sollte sich nun erfüllen. Das machte mich innerlich froh.“[2]



[1] Bezeichnung einer umkämpften Anhöhe vor Verdun (d.Verf.)

[2] Der Erste Weltkrieg in Bildern und Dokumenten, a.a.O., S. 223.

 

29. Dezember 2022

Ruina mundi[1] [2]

aus: Utopisch. Ideen und ihre Geschichten, Twentysix  2020, S. 180f.

 

Die Lichter und Fenster

Am Gewölb des Himmels

Werden oft dunkel

Und der Welt

Zu ihrer Büberei

Nicht mehr scheinen und leuchten

Und sehnen sich mit uns

Nach unser(er)

Erlösung.

 

Und wie in einem alten Haus

Die Fenster dunkel werden

Und an einem

Verlebten Körper

Das Gesicht abnimmt

Also geht’s jetzt

Mit der alten

Und kalten Welt

auch.

 

Sie (.)nimmt

Zusehends ab

Die Sonn, Mond

Und andere Sterne

Leuchten, scheinen

Und wirken

Nicht mehr so kräftig

Als wie

Zuvor.

 

Es ist mehr kein rechter

Beständiger Sonnenschein

Kein steter Winter

Und Sommer.

Die Früchte und Gewächs auf Erden

Werden nicht mehr so reif

Sind nicht mehr so gesund

Als sie wohl ehezeit

Gewesen.

 



[1] Lateinisch, „Zusammenbruch der Welt“; gegen Ausgang des 16. Jahrhunderts der immer wieder artikulierte Eindruck, die Welt sei – durch den Beginn der Kleinen Eiszeit (1570 – 1700) – aus den Fugen geraten. Man deutete den Klimawandel als Strafe Gottes für den lasterhaften Lebenswandel der Menschen. Siehe Blom, P., Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit, Carl Hanser Verlag München 2017, S. 61. 

[2] Der folgende Text stammt von dem Chronisten Daniel Schaller, Pastor aus Preußen, der die Wetterereignisse und ihre Folgen gegen Ende des 16. Jahrhunderts aufgezeichnet hat; zitiert nach Blom, P., a.a.O., S. 34.; Rhythmisierung und Layout vom Verfasser.

 

23. Dezember 2022

"Stell dir vor" - eine Erzählung aus dem Ersten Weltkrieg, in Utopisch. Ideen und ihre Geschichten, Twentysix 2020, S. 202 - 240

September 1914

Karl Montiegel begründet seiner Frau, warum er sich freiwillig für den Kriegsdienst melden will.

Elisabeth war stolz, erschöpft, aber vor allem unendlich erleichtert (gewesen), dass es vorbei war.
„Die zweite Geburt ist fast immer leichter“, hatte Henny getröstet und Elisabeth glaubte ihr.
„Für Gott, Kaiser und Vaterland!“, das waren die Worte, die Karl ausstieß, als er über die Schwelle trat.
Was für ein Unsinn, hatte Elisabeth damals gedacht. Das eigene Kind als eine Opfergabe zu betrachten, es neben Gott auch dem Kaiser und dem Vaterland zu weihen, wo doch die Zeiten der Menschenopfer schon viele Jahrhunderte vorbei waren. Dann war Karl an ihr Bett getreten und hatte ihr einen Kuss gegeben. Aber der kleine Stich war bis heute geblieben.
Jetzt stand Karl im Salon vor ihr und wiederholte die gleichen Worte.
„Für Gott, Kaiser und Vaterland. Es muss sein. Fast meine ganze Abschlussklasse hat sich freiwillig gemeldet. Wie soll ich, ihr Lehrer, ihnen in die Augen blicken, wenn sie zurückkehren und ich mich gedrückt habe.“
„Wie kannst du davon ausgehen, dass du sie wiedersiehst? Vielleicht sterben sie alle, nicht wahr?“
„Wenn das Herbstlaub gefallen ist, liebe Elisabeth, sind sie zurück. Als Männer, als Helden, die das Vaterland in diesem heiligen Krieg gegen seine Feinde verteidigt haben. Ich würde mich schämen, wenn ich nicht dabei gewesen bin.“
Elisabeth ging wortlos hinaus und kam nach einem Augenblick mit Friedrich auf dem Arm zurück. Ganz still blieb der Kleine, fuchtelte nur ein wenig mit den Ärmchen, schaute neugierig auf seine Umgebung.
„Blick doch deinem Sohn mal in die Augen! Soll er ohne dich aufwachsen, ohne deine Lehre, deinen Beistand, dein Vorbild? Musst du dich nicht eher vor ihm schämen, dass du riskierst, dass er eine verlassene Waise wird? Uns bist du zuallererst verpflichtet.“
Karl begann zu lachen.
„Willst du das Hektorlied anstimmen, liebe Elisabeth? Ich bitte dich! Mein Entschluss steht fest. Ich werde mich morgen registrieren lassen.“
Das Hektorlied, Elisabeth kannte es nicht. Karl wies sie gern mit Bildungsbürgerlichem in die Schranken, demonstrierte seine Überlegenheit, wenn er keine Argumente hatte, wenn er nicht weiter wusste.
Friedrich hatte angefangen zu schreien. Elisabeth setzte sich hin, öffnete ihr Kleid. Und während Tränen der Verzweiflung und Wut über die Verwirrtheit ihres Ehemannes die Wangen hinunterrollten, gab sie ihrem Kind die Brust.
Karl hatte den Salon schon vor einigen Minuten verlassen.

 

17. Dezember 2022

"Stell dir vor" - eine Erzählung aus dem Ersten Weltkrieg, in Utopisch. Ideen und ihre Geschichten, Twentysix 2020, S. 202 - 240

Nie hätte ich gedacht, dass meine Erzählung "Stell dir vor" über den ersten Weltkrieg so aktuell werden würde Alles wirkt plötzlich wie auf den Kopf gestellt, "Frieden schaffen ohne Waffen", "keine Waffen in Kriegsgebiete", überholte Slogans von gestern?

Zur Erzählung

Karl Montiegel, ein Lehrer, meldet sich als Freiwilliger von Frau und Kind weg für den Kampf an der Front. Seine Frau Elisabeth muss mit Sohn Friedrich das Leben in der Heimat bewältigen. Für Jahre der einzige Kontakt sind Briefe.

Frontabschnitt bei Verdun  18. Februar 1916
 
„Meine liebe Elisabeth!
 
Vielleicht gibt es nun endlich eine Wende!
Unsere Kompanie ist nach Verdun verlegt worden. Wie alle glauben, steht die Entscheidungsschlacht bevor. Alles ist besser als unser Leben im Graben.
Jetzt, wo ich ständig gegen Franzosen kämpfen muss, denke ich öfters daran, dass meine Vorfahren als Hugenotten aus Frankreich kamen. Eigentlich hast du einen französischen Nachnamen, Elisabeth! Montigelle! Montiegel ist nur eine Eindeutschung. Ist doch merkwürdig und irgendwie komisch, nicht wahr?
Wenn es keinen Gefechtslärm gibt, wird es manchmal so still, dass man bei entsprechender Windrichtung die Soldaten in den feindlichen Gräben singen hören kann. Dann schweigen wir alle, hören auf die Klänge und wenn sie ihr Lied beendet haben, dann klatschen wir wie wild Beifall. Und dasselbe tun sie auch, wenn wir unsere Lieder singen.
Erinnerst du dich noch an Peter Brühl, an den Primus meiner Abschlussklasse, den seine Kameraden immer Wikinger gerufen haben, weil er rote Haare hatte und groß wie ein Hüne war? Er hat mit mir in der gleichen Einheit gedient. Vorige Woche ist er nachhause entlassen worden. In der Truppe war er einfach nicht mehr tragbar. Seine Nerven. Wahrscheinlich hat er das ständige Artilleriefeuer, die Einschläge und Explosionen, nicht mehr aushalten können. Andauernd ist er umgefallen, hat nur noch gezittert und geschrien und wollte nichts mehr essen. Zuerst haben wir gedacht, dass er sich drücken will, dass er ein Feigling ist. Aber das glaube ich jetzt nicht mehr. Er wäre sicher gestorben, wenn man ihn noch länger an der Front behalten hätte. Und für unsere eigene Moral war’s auch nicht gut.
Er soll jetzt in einer Klinik behandelt werden. Aber der Bruder eines Kameraden ist auch ein Kriegszitterer und der hat behauptet, dass man solche Leute nicht heilen kann, weder durch Beruhigungsmittel und Bäder noch durch Elektroschocks[1].
Bete für uns, dass das Ganze bald vorbei ist!
Wenn ich fallen sollte, sei gewiss, dass ich dich und Friedrich von ganzem Herzen geliebt habe. Wenn ich überlebe, bekomme ich sicher auch bald Urlaub, damit ich dich an mich drücken und küssen kann.
 
In Liebe für immer
Dein Karl“

 [1] Nachdem in der NS-Zeit durch ein Gesetz vom 3. Juli 1934 seelische Erkrankungen grundsätzlich nicht mehr als Folge erlittener Kriegstraumata anerkannt wurden, wurden schließlich im Rahmen der NS-Euthanasiemorde zwischen 4000 und 5000 psychisch kranke Veteranen des Ersten Weltkriegs umgebracht. (wikipedia, Kriegszitterer; 11.05.2020; 10.51 Uhr)

 

10.Dezember 2022

Im Sommer 2017 veröffentlichte der Autorenclub Wetterau sein Buch Unterwegs in der Wetterau. In einem meiner Beiträge zu dieser Anthologie habe ich die Geschichte von Susanna Edelhäuser, der letzten Hexe von Friedberg, erzählt. Sie ließ für den noch bis ins späte achtzehnte Jahrhundert grassierenden Irrglauben ihr Leben.

Hexenproben sollten die Schuld oder Unschuld der Verdächtigten beweisen: Man fesselte die Hexe, warf sie ins Wasser. Konnte sie sich befreien, war sie schuldig und wurde hernach verurteilt, meist zum Tod durch den Scheiterhaufen. Ertrank sie, war ihre Unschuld bewiesen ...

Im Folgenden könnt ihr einen Auszug aus dem Buch lesen; es ist noch in Restexemplaren im lokalen Buchhandel erhältlich.

"In der Werkstatt
An der Tür klopfte es, laut, eindringlich.
„Ludwig, schau nach, wer etwas von uns will!“, bat Hans den Lehrjungen.
Ihm fiel das Aufstehen schwer, weil er, nur um die Mitte herum, so dick geworden war. So wie Kettergen in ihrer ersten Schwangerschaft, so komisch sah er jetzt aus. Das dachte Hans oft, wenn er an sich heruntersah.
Es klopfte wieder, härter als zuvor, dann traten Stiefel gegen die Tür.
„Aufmachen, sofort aufmachen, Meister Edelhäuser!“
Der Nikolaus Bürger stand vor der Tür. Hinter ihm zwei andere Gesellen.
„Wohnen hier die Bürgerinnen Katharina Edelhäuser und ihre Tochter Susanna?“, fragte er.
„Was soll das, Nikolaus?“, fragte Hans zurück.
„Das weißt du doch!“
„Ich bin hier im Auftrag der Stadt, Meister Edelhäuser. Die Barbe, die Barbara Camberger, hat bei der peinlichen Befragung Euer Weib und Eure Tochter der Hexerei bezichtigt. Ich werde beide jetzt in Gewahrsam nehmen und abführen.“
Katharina und Susanna sowie Antonius, Susannas zwölfjähriger Bruder, waren wegen des Lärms bereits die Treppe von oben heruntergeeilt und standen hinter Hans.
„Hans“, zischte Bürger dem Edelhäuser zu, „leiste keinen Widerstand, sonst nehmen sie dich auch noch fest! Dich hat sie genauso der Hexerei beschuldigt, aber der Rat will in deiner Sache nichts unternehmen, so viel habe ich herausbekommen. Männer verschonen die Herren meistens, haben Angst um ihr eigenes Fell. Also, mach Platz, dann kannst du wenigstens auf deine verbliebenen Kinder Acht geben.“
Nach diesen Worten trat Hans zur Seite, der Nikolaus Bürger und seine zwei Gesellen zerrten Katharina und Susanna an den Armen und den Haaren aus dem Haus.
Unter dem Gegaffe und Gespött der Leute wurden sie ins Gefängnis auf der Mainzer Pforte verbracht.
Man trennte Mutter und Tochter. Eine jede für sich allein, schmachteten sie im „Rosengärtchen“, der Hölle mit dem schönen falschen Namen, ihrer ersten Vernehmung entgegen.
 
Der Besuch
Der Gefängnisaufseher, den Susanna nicht kannte und noch nie in der Stadt gesehen hatte, stand in der geöffneten Tür. Der brennende Kienspan im tönernen Halter, den er in der linken Hand hielt, beleuchtete sein wüstes Gesicht.
„Richte dein Haar und steh auf!“, befahl er.
„Der Herr Pfarrer will dich sprechen.“
Susanna erhob sich von ihrer Holzpritsche, strich ihr Haar zurück und wartete.
Der Johannes Gebhard, der zweite Stadtpfarrer, kam, die Bibel in der Hand, herein.
„Du armes, verirrtes Kind“, sagte er und nahm auf dem Schemel, den der Aufseher in die Zelle gebracht hatte, Platz.
„Setz dich hin“, fuhr er fort und nahm Susannas Hand.
„Ich habe dich immer für einen gläubigen Christenmenschen gehalten, Susanna. Wenn du auch im letzten Jahr eher selten im Gottesdienst zu sehen warst.“
„Ich musste so viel zuhause helfen, Herr Pfarrer. Die Mutter war oft krank.“
„Du weißt, dass die Barbe dich beschuldigt hat? Bist du mit dem Teufel im Bunde, Kind?“
„Schauen Sie mich doch an, Herr Pfarrer. Trauen Sie mir solch Schändliches zu?“
„Der Teufel geht gar wunderliche Pfade. Er verbirgt sich hinter der Schönheit der Hexen, um die Menschen zu verführen. Und du bist nicht verheiratet, obwohl du schön von Gestalt und Antlitz bist, Susanna. Hast du es mit ihm getrieben, weil du unersättlich bist, so dass die Menschensöhne dir nicht genügen?“
Susanna gab auf diese Vorhaltung keine Antwort, sondern begann zu zittern.
„Deine Hand ist eisig, Susanna. Das ist ein Zeichen des Teufels, das weißt du.“
„Hier drinnen ist es doch immer nur kalt, so unendlich kalt. Und ich friere, weil sie mir fast nichts zu essen geben“,  stieß Susanna hervor.
„Man beschuldigt die Herren nicht. Sie wollen nur ihre Pflicht tun“, wies Gebhard Susanna zurecht.
Sie schwieg einen Augenblick.
„Unser lieber Herr Luther, der hätte so etwas nicht gewollt und nie getan. Unschuldige Frauen in Kerker zu werfen und ihnen die ungeheuerlichsten Sünden vorzuwerfen.“
„Du unverständiges armes Weib!“
Gebhard schüttelte über Susannas mangelnde Bildung und Einsicht heftig den Kopf.
„Unser lieber Herr Luther wusste ganz genau, dass es Hexen gibt und hat uns beauftragt, sie zu verfolgen und aufzuspüren, weil sie großen Schaden bei den Menschen anrichten. Und er berief sich dabei auf das Wort, auf unsere Bibel. Denn dort steht es geschrieben:
‚Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen!‘
Willst du etwa unsere Heilige Schrift angreifen, du Ungläubige?“
Er hob die Innenflächen seiner beiden Hände abwehrend vor sein Gesicht, um sich vor Susannas schädlichem Einfluss zu schützen.
Susanna begann zu weinen, aus Angst und Verzweiflung, Hunger und Kälte.
„Es ist für dich ganz einfach, dein Leben zu retten“, sagte Johannes Gebhard nach einer Weile.
„Wieso sollte man mir das Leben schenken, wenn sie in Bingenheim und auch hier schon so viele hingerichtet haben?“
„Das irdische Leben, Susanna, ist vergänglich und kurz. Wenn du gestehst, bekommst du etwas viel Süßeres. Du gewinnst das ewige Leben in der Nähe unseres Herrn Jesus Christus und seines Vaters, unseres gütigen und allmächtigen Herrn.“
Susanna erhob sich.
„Herr Pfarrer, ich möchte Sie bitten zu gehen. Sie können und Sie wollen mir auch nicht helfen. Sie werden sich vor unserem Herrn dereinst verantworten müssen, dafür, was Sie hier auf Erden getan haben.“
Ohne ein weiteres Wort drehte Susanna sich um und kehrte dem Pfarrer den Rücken zu.
„Du Dreiste, du Widerspenstige“, rief er und drohte mit dem Finger, „sie werden dich foltern und quälen, und dann wirst du brennen. Und in deiner letzten Minute sollst du daran denken, dass ich dich gewarnt habe.“
Gebhard polterte an die Tür, der Aufseher öffnete ihm, nahm den Kienspanleuchter, dessen Licht nur noch flackerte, an sich und verschloss die Tür. Susanna blieb in der Finsternis zurück."
 

3. Dezember 2022

https://www.twentysix.de/shop/catalogsearch/result/?q=Luise+Link

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Den Kurzroman Die Farm der Hühner. Fabelhaftes aus Hessen habe ich 2018 veröffentlicht. 

Aus dem Klappentext
"Irgendwo in Hessen, wo man von den Hügeln auf langgestreckte Felder mit Rosen und Raps blickt, steht ein fahrbarer Hühnerstall. Dorthin verschlägt es das Schoßhühnchen Erna. Mit Hugo, dem Leithahn, Herrn Karl, einem alten Brahma, der Hessisch spricht und Herma, dem Oberhuhn, macht Erna nach und nach Bekanntschaft. Was zunächst wie ein Freiluftparadies mit Freunden ausgesehen hat, entpuppt sich im Laufe der Zeit allerdings als Aufenthaltsort mit einigen Tücken und Geheimnissen ..." 

„Körnerfrühstück gibt’s erst um elf“.
Hugo stand neben Erna und sah sie aufmerksam an.
   „Ich hab aber Hunger, jetzt. Das war doch eine lange Nacht.“ Erna klang verzweifelt.
   „Ich könnte dir die besten Würmer zeigen. Und wo Käfer sind, das verrat ich dir auch, wenn du mit mir mitkommst“, lockte Hugo.
   „Meinst du damit, dass du Würmer und Käfer fressen willst?“
   Erna schaute Hugo entgeistert an.
   „Ja, was dachtest du denn? Soll ich die Würmer und Käfer vielleicht liebkosen? Würmer und Käfer sind pures Eiweiß, Dummchen, Aminosäuren, B-Vitamine, Eisen. Wie willst du denn sonst in der Mauser …?“
   Hugo stoppte mitten im Satz. Am liebsten hätte er sich sofort auf den Schnabel gebissen. Dieses Fass aufzumachen, das musste unbedingt vermieden werden, vor allem bei Erna, diesem verwöhnten, naiven Hühnchen mit dem taghellen Verstand.
   Ihr schien aber nichts aufgefallen zu sein. Sie plapperte sofort weiter.
   „Ich verzehre keine Mitgeschöpfe, meine Mama Betty auch nicht. Man frisst keine Geschwister, damit man einen Augenblick seinen Fresstrieb befriedigen kann. Wer seine Brüder und Schwestern frisst, hat keine Ethik, ist unmoralisch, hat kein Gewissen, verstanden?“
   Erna schaute Hugo trotzig an. Irgendwie wirkte sie naseweis und dabei völlig überheblich.
   „Weißt du was, Erna? Wer im Leben ständig alles hinterfragt, der hat keinen Spaß und für seine Umgebung ist er eine einzige Anstrengung. Ich geh jetzt anständig frühstücken und dann suche ich mir ein unkompliziertes Huhn. Dir wollte ich eigentlich heute Morgen ein unmoralisches Angebot machen, aber du bist eine richtige Spaßbremse.“
   Sprach‘s, drehte Erna den Rücken zu und ließ sie verblüfft und hungrig zurück.
 

27. November 2022

Kein Witz?, aus: Luise Link, Utopisch. Ideen und ihre Geschichten, Twentysix 2020, S. 241

https://www.twentysix.de/shop/utopisch-luise-link-9783740770358

 

Im fünften Kapitel des Buches "Strategien und Strategen" geht es um Herangehensweisen, wie Menschen zusammenleben und wie die "Mächtigen" sie regieren. "Der Kampf um den richtigen Weg, die Bewahrung und Weiterentwicklung des Erreichten, die Vermeidung von Fehlern der Vergangenheit ist stetige Aufgabe einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft. Für unsere und die nächsten Generationen kann man sich Freiheit, einen Wettbewerb der Ideen, Augenmaß und vor allem die zufällige Gunst des Schicksals wünschen." (S. 240)

Kein Witz?

Politik ist die Kunst, mit allen geeigneten Mitteln stets den eigenen Interessen gemäß zu handeln. Friedrich der Große

Ein weiser Politiker sorgt dafür, dass die Bäuche der Menschen voll sind und ihre Köpfe leer. Laotse, chinesischer Philosoph

Nichts vereinfacht das Leben so nachhaltig wie eine Diktatur. Wladimir Iljitsch Lenin

Karl Valentin steht mit Liesl Karlstadt einige Minuten vor Vorstellungsbeginn auf der Bühne.

„Es ist doch ein wahres Glück, dass wir nicht im Schlaraffenland leben!“

„Aber wieso denn?“

„Na, was hätten wir denn von den gebratenen Tauben, wenn wir das Maul nicht aufmachen dürfen?“



20. November 2022

Herr Maximilien und die Tugend, aus: Luise Link, Utopisch. Ideen und ihre Geschichten, Twentyisx 2020

https://www.twentysix.de/shop/utopisch-luise-link-9783740770358


 

zeichnet auf siebenundsiebzig Seiten die Biografie des berühmten Revolutionärs der Französischen Revolution, Maximilien Robespierre, nach. Zunächst zutiefst um Tugendhaftigkeit bemüht, wird er im Laufe der Revolution immer mehr zum unduldsamen und grausamen Diktator, für den der heilige Zweck, dem Volk zu unbedingtem Widerstand zu verhelfen, alle Mittel heiligt. Unter seiner Herrschaft beginnt das Terror-Regime; die institutionellen Errungenschaften der Revolution werden nach und nach außer Kraft gesetzt, politische Weggefährten, enge Freunde und deren Familien lässt er hinrichten, Zehntausende fallen unter der Guillotine. Am Ende richtet das Volk, als dessen Fürsprecher er sich deklariert hatte, ihn selbst. Maximilien Robespierre stirbt am 28. Juli 1794, dem 10. Thermidor im Jahr II der Republik, unter dem Fallbeil.

Camille Desmoulins, enger Freund aus Schultagen und politischer Weggefährte Robespierres sowie der berühmte Revolutionär Danton treffen sich am Ufer der Seine.

Vor den Tuilerien, am Seineufer, 21. Brumaire im Jahr II der Revolution, 

11. November 1793

„Desmoulins, haben Sie einen Moment?“

Camille Desmoulins, der gerade durch die Tür des Nationalkonvents hinausgehen wollte, drehte sich um.

„Citoyen Danton, kann ich etwas für Sie tun?“

„Vielleicht ja, vielleicht nicht, Camille, lassen Sie uns das bei einem Spaziergang besprechen.“

„Ist es dafür draußen nicht etwas zu ungemütlich?“, gab Desmoulins zu bedenken.

„Draußen und drinnen auch, lieber Desmoulins, wobei das Wort eine schreckliche Untertreibung ist, nicht wahr? Darüber möchte ich mit Ihnen reden. Kommen Sie!“

Die beiden Männer waren nach kurzer Zeit am Quai der Seine angelangt. Danton gab mit einigen Schritten nach rechts die Richtung vor, Desmoulins folgte ihm.

„Er schreckt vor nichts zurück, Desmoulins. Frauen, Kinder, verdiente Weggefährten.“

Desmoulins nickte mit dem Kopf. Er schien genau zu wissen, wen Danton meinte.

„Wir haben alle geholfen, Georges, diesen Zustand herbeizuführen. Denken Sie nur daran, wie Sie die Sondergerichte gefordert haben. Jetzt haben wir sie. Das Revolutionstribunal leistet ganze Arbeit, ebenso wie der Konvent, aus dem alle Opposition mit unserer Billigung verschwunden ist. Wir haben zugestimmt, dass um der Erhaltung der republikanischen Tugend willen Terror ausgeübt werden muss. Dabei dachten wir an andere, hielten ihn für das große Ziel für gerechtfertigt, nicht, dass der Terror auch uns selbst treffen kann. Ein Fehler und eine Sünde.“

„Wir können nicht weiter zuschauen! Wir sind beide verheiratet, Camille. Ihre schöne Lucile, Ihr Kind, meine Maxime. Sein Terror macht nicht vor den Familien halt.“

Eine ganze Weile schwiegen beide Männer, verloren in Gedanken, jeder einzelne verurteilt, in einem rasend schnellen Gefährt zu sitzen, das längst die falsche Richtung eingeschlagen hatte, aus dem man aber nicht mehr aussteigen kann.

„Wie schön die untergehende Sonne den Fluss färbt. Oder ist es eher das Blut der Hingerichteten, das die Seine erröten lässt, was meinen Sie, Camille?“

Desmoulins antwortete erst nach einer Weile:

„Ich werde schreiben. Vielleicht können Worte doch noch etwas ausrichten.“

„Ich werde an Ihrer Seite stehen, Citoyen Desmoulins. Es ist genug Blut geflossen.“


16. November 2022

 
 
Dieses Buch habe ich 2018 veröffentlicht. Da hatte ich schon fünf eigene Bücher geschrieben und mich fünfzehn Jahre in unterschiedlichen Schreibgruppen getummelt. Seit meinem Studium interessierte mich Fiktionales, und als Tutor hatte ich Gelegenheit, mich intensiver mit den Elementen und Gesetzen  fiktionaler Literatur auseinanderzusetzen. Das Buch ist eine Anleitung für das edelste Handwerk, wie man es im alten Rom nannte. Denn Schreiben kann - und muss man bis zu einem gewissen Grad auch erlernen.
Der 128 Seiten umfassende Ratgeber endet mit einer Zusammenfassung in Form eines Gedichts - vielleicht gefällt es euch...
 
Man nehme
einen Helden
einen Gegner
weitere Gesellen.
Konflikt, Gefahr,
Hindernis und
keine Lösung.

Station auf Station
die Spannung wächst. 
Der Weg 
ist interessant
und schön,
bewegt.
 
Wälder, Wiesen,
Wohnquartiere.
Tage, Wochen,
Jahre,
Frühjahr, Winter,
Sommer, Herbst.
 
Höhepunkt, jetzt Leserzittern.
Explosion und Supergau.
Lösung endlich.
Alles Ende.
Letzte Zeile.
Ach, vorbei.
 
                                                                                                                                                             


 

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