Nach 130 Jahren immer noch topaktuell: Gustave Le Bons Thesen zur "Massenseele"
„Ich will sie verstehen, die neue Zeit, da muss ich die alten Bücher lesen.“[1]
Haben Sie auch schon die folgende Erfahrung gemacht?
Man liest ein Fachbuch oder ein auf Wissenschaftlichkeit bedachtes Sachbuch und die Menge des neu hinzugekommenen Wissens ist relativ dürftig. Der Autor hat sich bemüht, den Stand der Wissenschaft wiederzugeben, das hat seine meiste Zeit verbraucht. Was darüber hinausgeht, seine eigenen Gedanken, sind wenige. Er war wissenschaftlich redlich, hat sich nicht mit fremden Federn geschmückt – aber ein bisschen ist darüber die Gedankenfülle und die Originalität verloren gegangen. Ein Preis, den wir zahlen.
Eine Aufarbeitung des vorhandenen Wissenschaftsstandes musste Le Bon für sein Thema nicht leisten; er wird als Gründer und Vater der Massenpsychologie gesehen, er sprudelte seine Gedanken nur so heraus. In seinem Werk von 190 Seiten finden sich ganze 29 Anmerkungen. Über manche seiner Thesen ging die Zeit, nicht alles kann der heutige Leser mittragen oder für gutheißen. Aber seine Gedanken bestechen, man liest jede Seite sorgfältig, weil so vieles neu und interessant erscheint – auch heute noch.
Eine kleine Thesen-Auswahl[2]
· „Unter bestimmten Umständen … besitzt eine Versammlung von Menschen neue, von den Eigenschaften der einzelnen, die diese Gesellschaft bilden, ganz verschiedene Eigentümlichkeiten…. Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz der seelischen Einheit der Massen.“[3]
· „… durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zur Masse besitzen sie (die einzelnen) eine Art Gemeinschaftsseele, vermöge deren sie in ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln, als jedes von ihr für sich fühlen, denken und handeln würde.“[4]
„Das Auftreten besonderer Charaktereigentümlichkeiten der Masse wird durch verschiedene Ursachen bestimmt.
· … der einzelne (gewinnt) in der Masse … ein Gefühl unüberwindlicher Macht, welches ihm gestattet, Trieben zu frönen, die er für sich allein notwendig gezügelt hätte.
· … durch die Namenlosigkeit und demnach … Unverantwortlichkeit der Masse (verschwindet) das Verantwortungsgefühl, das die einzelnen stets zurückhält … .
· … In der Masse ist jedes Gefühl, jede Handlung übertragbar (contagion mentale).
· … Noch eine dritte, und zwar die wichtigste Ursache, ruft in den zur Masse vereinigten einzelnen besondere Eigenschaften hervor, welche denen der alleinstehenden einzelnen völlig widersprechen: …(die) Beeinflussbarkeit (suggestibilité).
· … der einzelne als Glied einer Masse … ist sich seiner Handlungen nicht mehr bewusst.“[5]
[1] Luise Link, Erzähl Dir ZeitGeschichten, Twentysix 2019, S. 343.
[2] Layoutveränderungen und Hervorhebungen sowie eine Rechtschreibanpassung im Folgenden vom Blogger.
[3] Im Folgenden beziehen sich die Fußnoten auf das Werk Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, 12. Auflage, Nikol 2015, S. 29.
[4] Hervorhebung vom Blogger; s. 32.
[5] S.35 bis 37.
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