Unerschrockene Leser

Als der von der Kirchenmacht als Ketzer verfemte Augustinermönch Martinus Luther 1517 an der Schlosskirche zu Wittenberg seine fünfundneunzig Thesen anbrachte, gab es genug Unerschrockene. Sie ließen sich nicht davon abhalten, Luthers Worte zu lesen – und diese entfalteten Wirkung: Die Reformation war geboren. Vor fünfhundert Jahren, zu jener Zeit, hatte man bei Auflehnung gegen die Obrigkeit noch viel zu befürchten: Kirchenbann, Vogelfreiheit, letztlich den Tod.

Das ist heute Gottseidank nicht mehr so. Also las ich vor Kurzem unerschrocken ein Buch aus einem  umstrittenen Verlag von einem umstrittenen Autor. Neue Sichtweisen auf etwas bekommt man nach aller Erfahrung nicht selten von Außenseitern. In der Wilheminischen Zeit wurden solche Leute mit einem kritischen Blick auf den damaligen Staat als Querulanten verfolgt, in den Achtzigern als Querdenker begrüßt und heute unter dem gleichen Begriff als Aufrührer und unerwünschte Gesellen verachtet. Im Dritten Reich hatten die Mächtigen eine Heidenangst vor solchen Volksgenossen, haben die verdächtigen Bücher öffentlich verbrannt. Und in der DDR gab es die Devise: Wer anders denkt, ist ein (Klassen)Feind. O tempora, o mores![1]

Die Bonner Republik und die Berliner Republik

Also zurück zu diesem Buch. Der Autor vertrat die These, dass die Bonner eine völlig andere gewesen sei als die Berliner Republik heute. Adenauer, Schmidt, Brandt, Kohl – die hätten ganz andere Werte gehabt und vertreten als Merkel und heute Scholz. Ob da etwas dran ist? So mancher reibt sich heute doch manchmal die Augen, zum Beispiel bei der Aussage von Scholz, es würde gegenüber den unsolidarischen Impfverweigerern keine roten Linien mehr geben. In Zukunft müsse man sich dann eben alle drei Monate seinen Pieks abholen … Und erinnern wir uns: Merkel hat ihre Entscheidungen gern als alternativlos dargestellt. Waren halt alles Sachzwänge? Da gab’s für das Volk nichts mitzureden und zu entscheiden? Ich bin allerdings nach wie vor der Meinung, dass Alternativlosigkeit nicht unbedingt die Regierungsform der Demokratie kennzeichnet, oder? Und die SPD, hat die nicht kürzlich die Zeitenwende ausgerufen, weil die Politik der Entspannung durch Willy Brandt ein Irrtum gewesen sei?

Rechts oder links?

Der Buchautor hat übrigens vom polit-medialen und vom militärisch-industriellen Komplex geschrieben. Ist das rechts?  Bisher habe ich solche Begriffe und Auffassungen bisher bei den Linken eingeordnet. 

Trigger-Warnungen sind überflüssig

Unerschrockenes Lesen fördert auf jeden Fall die eigene Beurteilungskompetenz, es tut überhaupt nicht weh, Trigger-Warnungen sind überflüssig.Versucht es doch selbst mal, oder auch öfter, wie beim Stricken, eins rechts, eins links …

Wie das Lesen beziehungsweise das Nicht-Mehr-Lesen in einer zukünftigen Gesellschaft aussehen kann und welche Wirkungen dabei möglich sind, findet ihr auf meiner Leseprobe-Seite im Roman Mondia oder Die Verschwörung der Gleichen.  

 

 



[1] Für Nicht-Lateiner sinngemäß: Wie ändern sich die Zeiten …

 

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